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Ilma Rakusa
Heimweh ohne Heimet
László Végel: Sühne. Texte unterwegs. Aus dem Ungarischen übersetzt von Lacy Kornitzer. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2012. 189 S., Fr. 27.90.
László Végel lebt als Vertreter der ungarischen Minderheit im nordserbischen Novi Sad und gehört mit seinen 71 Jahren zu den scharfsinnigsten Beobachtern politischer Umwälzungen und Katastrophen in Mittelosteuropa. Seine Heimatstadt bot ihm Anschauungsmaterial genug. Zwar war er noch ein Kind, als die ungarischen Besatzer 1942 Greueltaten an Juden, Serben und Roma verübten und als die jugoslawischen Partisanen sich brutal an den Horthy-Faschisten rächten, doch die Kunde holte ihn später ein. Bewusst erlebte er die Halbdiktatur des Tito-Regimes und voll Abscheu Slobodan Miloševićs nationalistische Politik, die wesentlich zum verhängnisvollen Jugoslawien-Krieg beitrug. Er musste mit ansehen, wie Novi Sads Brücken durch Nato-Angriffe zerstört wurden, wie Flüchtlingsströme die Bevölkerungsstruktur der ehemals multiethnischen vojvodinischen Stadt veränderten und die ungarische Minderheit unter zunehmenden Druck der serbischen Nationalisten geriet. Letztere sind noch heute aktiv, markieren ihre Präsenz durch Aufmärsche und fremdenfeindliche Parolen, lassen es an Europa-Skepsis nicht fehlen.
Jenseits provinzieller Enge
László Végel ist ein weltoffener Mitteleuropäer, der sich mit provinzieller Enge und politischem Fanatismus nie abfinden mochte. Als kritischer Aussenseiter schrieb er – auf Ungarisch – zahlreiche Romane («Bekenntnisse eines Zuhälters», dt. 2011) und luzide Essays («Exterritorium», dt. 2007), kam aber aus der unfreiwilligen Isolation nicht heraus. Denn Reisen blieben ihm – bis auf Einkaufstouren nach Triest und einem Berlin-Besuch kurz vor der Wende – weitgehend versagt. Das änderte sich, als Végel 2006 auf Einladung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes ein ganzes Jahr in Berlin verbringen konnte. Die pulsierende deutsche Hauptstadt entriss ihn heimischen Konflikten, eröffnete ihm Kontakte, veränderte seinen Fokus, obwohl er auch hier auf Schritt und Tritt mit den Tücken der Geschichte konfrontiert war. Végel wurde ein begeisterter Stadtflaneur – und darüber hinaus ein Erkunder deutscher Lande. Einladungen zu Lesungen und Stipendienaufenthalten erreichen ihn seither oft, er weilte auch schon mehrfach in der Schweiz.
Bunte Reisegesellschaft
So erstaunt es nicht, dass sein jüngster Essayband, «Sühne», den Untertitel «Texte unterwegs» trägt. Doch wer Berichte eines globalisierten Reisenden erwartet, sieht sich getäuscht. Végel reist mit dem Gepäck seiner Herkunft und Sozialisierung, den Blick geschärft für europäische Verwerfungen und postjugoslawische Absurditäten. Die Reisen führen grösstenteils nach Berlin (erzählt wird auch die aus dem Jahre 1988), unter teilweise absonderlichen Umständen. Man lese nur die Schilderung seiner Busfahrt von Novi Sad in die deutsche Hauptstadt. Die Reisegesellschaft stellt einen bunten balkanischen Mix dar, streitet heftig und bangt um ihr Gepäck voller Speck, Paprikawurst, Lammbraten und Sliwowitz, der Chauffeur sammelt sofort Bestechungsgeld für die Zollbeamten ein, gefälschte Pässe machen die Runde, die einen werden konfisziert, die anderen nicht, gerastet wird selten, der Zustand der Toiletten widerspiegelt den zivilisatorischen Stand des jeweiligen Landes, als man sich Berlin nähert, wird in Mischsprachen und leiser diskutiert, über deutsche Chefs und solide serbische Wurzeln und dass die Chinesen die Welt retten.
Das alles ist schrecklich wahr und zum Weinen komisch – und ein erzählerisches Kabinettstück. Végel gehört zu jenen Illusionslosen, die die herben Tatsachen ins Satirische kehren, Witz und Strenge sind bei ihm nicht zu trennen. Den Bus-Text beschliesst er übrigens mit der Feststellung, das «deutsche Geheimnis», aber auch sein eigenes und «unseres», sei die Sühne.
Bittere Worte
Schuld lastet Végel dem Osten wie dem Westen an, doch einen Spiegel hält er vor allem den Ex-Jugoslawen vor: «Nach dem eindeutigen Sozialismus sind wir in die eindeutige osteuropäische Zwangsjacke eines brutalen Kapitalismus geschlüpft. Die Spieler sind dieselben, ich erkenne sogar ihre Gesichter, was für eine monumentale Schizophrenie . . .» Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit interessierten keinen, fährt Végel fort, aus Mitteleuropa und dem Balkan sei «eine Reality-Show in Serie» geworden. Das sind bittere Worte, in die sich die persönliche Klage des Autors über sein «bad luck» mischt: keine Heimat zu haben, nur immer stärker werdendes Heimweh.
László Végels neue Essays greifen einige seiner alten Themen auf, sie resümieren – prägnant und sarkastisch, zwischen Narration und Reflexion mäandrierend – das Ende Jugoslawiens und die Wirren danach, zeigen die moralische Skrupellosigkeit von Politikern, Oligarchen, Wendehälsen, schildern ein gesellschaftliches Klima, in dem selbst ein liberaler Intellektueller zum Homo duplex mutiert. Stärker als früher betont Végel die Notwendigkeit, angesichts einer immer raffinierteren und undurchsichtigeren Wirklichkeit dem «übrig gebliebenen Benennbaren mit einer verzweifelten Kraftanstrengung einen Namen zu geben». Daran hält er sich tapfer, auch wenn da und dort Selbstzweifel aufkommen: «Bei der Kontrolle deiner Phantasie steht dir die Wirklichkeit im Weg, du bist ihr nicht gewachsen. Die Spuren deiner Träume lassen sich nicht verwischen, doch bist du selbst ohne jede Spur.»
So viel Skepsis ist allerdings nicht angebracht. László Végel verschafft sich längst auch im Westen Gehör, die Spuren seiner gedanklichen und künstlerischen Arbeit sind greifbar – und fruchtbar. Und auch in Zukunft möchte man die kritische Stimme dieses Rufers aus Novi Sad nicht missen.
Neue Zürcher Zeitung, 09. 08. 2012.