Die Krise der serbischen Identität dauert an – Gespräch mit dem Schriftsteller László Végel Einen «heimatlosen Lokalpatrioten» nannte sich László Végel vor den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien. In ihnen verlor der Angehörige der ungarischen Minderheit in der Vojvodina die Anhänglichkeit an die Landschaft: Der Nationalismus liess Végel um sein Leben fürchten. Jörg Plath sprach mit dem Schriftsteller in Berlin über die Lage in Serbien. …
Herr Végel, in ihren Aufzeichnungen «Exterritorium» schildern sie auf beklemmende Weise die nationalistisch aufgeheizte Atmosphäre während der Nato-Angriffe auf Serbien im Jahr 1999. Hat sich die Situation seitdem geändert?
László Végel : Die Nato-Angriffe waren Teil eines postmodernen Computerkrieges in einem prämodernen ethnischen Konflikt. Ein Krieg ohne Körper. Darum ist mein Buch ein Dokumentarroman über eine absurde, eine fiktive Wirklichkeit. Sie hat auch den Nationalismus verwandelt. Er ist nicht mehr so aggressiv, die Polizei erregt keine Angst mehr. Der Staat ist ohnmächtig und behauptet von den Extremisten, sie seien unwichtig. Denn die nationale Identität steckt in einer Krise. Sie ist zu den Extremen hin offen. Früher war der Nationalismus optimistisch, jetzt ist er nihilistisch und anarchistisch. Natürlich gibt es Konflikte mit den Minderheiten, und der Antisemitismus hat zugenommen. Es gibt auch Konflikte zwischen Serben: Die Serben der Vojvodina wollen mehr Autonomie, sie denken europäisch und sind toleranter als jene Serben, die nach Kämpfen gegen Kroaten und Bosniaken in die Vojvodina geflohen sind. Die Flüchtlinge haben schlechte Erfahrungen mit anderen gemacht, sie denken antieuropäisch. Sympathie für den Euro
Wie sieht man Europa in Serbien? Die Mehrheit der politischen Elite denkt, dass Europa den Balkan nicht versteht und verantwortlich ist für den Zerfall Jugoslawiens. Es gibt mehr Sympathie für den Euro als für die EU.
Milosevic gilt nicht als schuldig? Die Erinnerung an ihn ist ein Drama. Milosevic war sehr populär. Seine Fotos hingen auf dem Land in den guten Stuben. Dorthin haben es die Fotos von Tito nie geschafft. Milosevic hat neben den Familienfotos residiert, er war Teil des privaten Lebens. Die Menschen denken, er habe viele Fehler gemacht, habe aber im Wesentlichen recht gehabt. Milosevic ist ein kollektiver apokrypher Mythos. Seine Figur gibt es doppelt, eine ist real, die andere imaginär. Man ist gegen den realen Milosevic und für den imaginären.
Sie zitieren einen Oppositionsführer, der Milosevic nicht vorwarf, dass er Kriege führte – sondern dass er sie verlor. Man wirft Milosevic noch heute vor, dass er den serbischen Teil von Kroatien, Bosnien und Kosovo verlor.
Kosovo gehört doch noch zu Serbien. Im juristischen Sinne, ja. Aber . . . Nach dem Nato-Bombardement kam Milosevic nach Novi Sad und verkündete: Wir haben die Nato besiegt. Es gab eine grosse Siegesfeier. Vier, fünf Monate danach haben die Leute gefragt: Wenn wir gewonnen haben, warum steht dann die Nato in Kosovo und nicht unsere Armee? Man begriff den Verlust Kosovos. Das ist nicht zu revidieren. Kosovo als Traum ist verloren. Und der Traum ist wichtiger als das reale Gebiet und die Menschen dort.
Hat man sich mit der Unabhängigkeit Kosovos bereits abgefunden? Die Situation ist schizophren. Die grosse Mehrheit, das besagen demoskopische Untersuchungen, ist gegen die Unabhängigkeit. Aber wenn ich mit den Leuten spreche, sagen sie, ja, wir haben Kosovo schon verloren. Die gleichen Leute! Inzwischen befürworten neunzig Prozent eine umfangreiche Autonomie für Kosovo: Wenn es nicht anders geht, dann soll es eben umfassende Sonderrechte geben. Kosovo soll eine Art Balkan-Hongkong werden. Das klingt wie eine Geschichte von Borges. Als Milosevic die Autonomie beseitigte, stimmten dieselben Leute zu, die jetzt mehr Autonomie als zu Titos Zeiten fordern. Es ist sehr schwer für eine Gesellschaft, in wenigen Jahren so radikale Wendungen zu vollziehen. Man kann nicht einmal emphatisch Nein sagen und dann ebenso emphatisch Ja. Das moralische Fundament der Gesellschaft gerät ins Wanken.
In «Exterritorium» beschreiben Sie, wie die Menschen im Krieg gleichzeitig in zwei Welten leben: in der der Erfahrung und der der Phantasie. Und die Welt der Phantasie vernichtet die der Erfahrung. Mein Buch ist nicht politisch, sondern antipolitisch. Ich schreibe über den Terror der Paradoxien in Kopf und Seele. Die Politik ist eine Phantasmagorie. In ihr warteten die Menschen mit Waffen und Bomben auf Godot. Sie kämpften gegen die Wirklichkeit. Dann kam Godot, und die Menschen glaubten es nicht. Jetzt fragen sie sich: Warum kam Godot so schnell?
Die Widersprüche gibt es noch immer: Die Mehrheit will nach Europa. Diese Orientierung ist ein Erbe aus Titos Zeiten: Wir hatten eine westliche Lebensform mit Heidegger-Anhängern im Zentralkomitee und einer Million Gastarbeitern im Ausland – und östliche Werte mit dem Einparteisystem und einer weichen Diktatur. Die Kommunisten hatten eine teilweise westliche Orientierung, die heutigen Antikommunisten haben eine östliche. Die radikalen Nationalisten sind für den freien Markt und das Mehrparteiensystem, wollen jedoch zugleich die organische Einheit der Nation. All das zusammen ist unmöglich. Über den Status Kosovos soll im Dezember eine Entscheidung gefällt werden.
Vielleicht erlangt Kosovo im Dezember die Unabhängigkeit. Das werden die EU, Russland und die USA entscheiden. Für die EU ist es sehr delikat, weil gegen die Doktrin verstossen wird, dass Grenzen nicht verändert werden dürfen. Die ostmitteleuropäischen Staaten mit Minderheiten beobachten die Entwicklung mit Sorge. Gerade hat die EU Serbien den Abschluss des Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommens in Aussicht gestellt – obwohl die Kriegsverbrecher Ratko Mladic und Radovan Karadzic noch immer nicht an das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag überstellt worden sind, was Ministerpräsident Vojislav Kostunica vor einem Jahr versprach.
Ratko Mladic gilt noch immer als Held. Ein Journalist fragte vor zwei, drei Jahren einen Minister: Wenn sie auf der Strasse Mladic bemerkten, würden sie der Polizei Bescheid sagen? Nein, antwortete der Minister, das ist nicht meine Sache. Kostunica hat Mladic und Den Haag als die letzten Dinge bezeichnet, die ihn interessieren. Jetzt nennt er Mladic ein wichtiges staatliches Problem. Dass sie Mladic nicht finden, zeigt allerdings, wie ohnmächtig der Staat ist. Die Angelegenheit ist eine umfassende Selbstkritik. Völkerverbindender Nationalpopulismus
Gilt das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag noch immer als «Gulag»? Das haben einige Intellektuelle gesagt. Die Anti-Den-Haag-Stimmung ist permanent: Das Tribunal ist eine Legitimation für den grassierenden Fremdenhass.
Russland unterstützt Serbien, Putin ist populär. Russland war immer wichtig in Serbien. Viele Menschen glauben, dass wir unter Putins Fahne in die EU eintreten.
In Serbien werden die grossen Staatsbetriebe privatisiert, und Ministerpräsident Kostunica hat russische Oligarchen empfangen. Kostunica glaubt aufrichtig, Serbien habe nur einen richtigen Freund: Russland. Aber die Nähe ist weniger wirtschaftlich oder politisch bedingt als kulturell. Putin symbolisiert das neu-alte osteuropäische Ideal: den Nationalpopulismus. Er ist attraktiv für Globalisierungsgegner, romantische Antikapitalisten und Nationalisten. Auch Gegner Putins fühlen sich davon angezogen. Der Weg vom Einpartei- zum Mehrparteiensystem war kurz, die Veränderung der Mentalität dauert viel länger. Alle unsere Parteien sind kleine oder grosse Feudalisten. Im Postkommunismus ist die feudale Tradition sehr lebendig. Unsere Vergangenheit ist noch immer teilweise unsere Zukunft.
Von László Végel ist vor kurzem im Verlag Matthes & Seitz das Kriegstagebuch «Exterritorium» erschienen. Eine Besprechung folgt. Végel lebt derzeit als Stipendiat des DAAD in Berlin. (19. November 2007, Neue Zürcher Zeitung)