Serbiens seismischer Untergrund
Literatur rund um und aus Serbien
Balduin Winter
Kommune, Juni/Juli 2011
Battonya heißt Esther Kinskys Erzählort, der fast so unbegreifbar wie eine Fata Morgana erscheint und doch ganz wirklich im letzten Südosten Ungarns liegt, im Banat, abseits der Staatsstraße von Szeged nach Bekéscsaba direkt an der Grenze zu Rumänien. Dort endet eine Eisenbahnlinie in einem verkrauteten Bahnhof, dessen handgeschriebener Fahrplan sechs ankommende und abfahrende Züge ausweist. Die Landschaft wirkt auf die Neuankommende wie ein vertrocknetes Meer, von dem der glattgewalzte Boden übrig geblieben ist, da und dort noch durchzogen von einem Wasserlauf, einem Flüsschen oder Kanal, ansonsten endlos weit, erdig, staubig, von ungewissen Horizonten umkreist.
Man muss hier nicht gleich an Herta Müller denken. Batschka, Banat, Vojvodina: das sind Landschaften mit einem ganz unvergleichlichen Flair, ungeachtet der Grenzen, die sie durchziehen. Hier hat sich schon über Jahrhunderte ein Kulturraum mit einer vielsprachigen Literatur herausgebildet, der nie bestrebt war, mit den Metropolen (Belgrad, Budapest, Wien) zu konkurrieren und doch etwas ganz Eigenes wurde. An der Landschaft allein, Weite und Melancholie, kann es nicht liegen; näher kommt man der Sache schon mit der Vielfalt der Bewohner. Diese kommt bei Esther Kinsky ganz selbstverständlich zu Wort. Mal wird serbisch gesprochen, mal ungarisch, mal rumänisch, dann schildert sie die mit Schrott handelnden Roma. Auch von der Geschichte her ist es keine abgelegene Region, hier wurden einige Jahrhunderte für Europa bedeutsame Schlachten geschlagen, mal war man hier diesseits, mal jenseits des Grabens zwischen Okzident und Orient. Keine idyllische und verschlafene Provinz also, wie der intellektuelle Urbanist in Budapest auf die meisten ruralen Provinzen Ungarns herunterblickt – nicht selten unter Einschluss von rumänischen und serbischen Gebieten jenseits der ungarischen Grenze.
Davon spürt man nicht viel in Kinskys »Roman«, aber etwas von dieser Unruhe merkt man. Sie knüpft an die Tradition einer Banatliteratur – eines Johannes Weidenfeld ebenso wie eines Vasko Popa – an, die die Stille und Weite des Landes ins Wortfeld bannt, ohne sie in die Nebel der Idylle zu tauchen. Stattdessen zeichnet sie den Weg einer Annäherung an einen fremden Ort nach, an ihr anfangs fremde Menschen, die zunächst in eben dieser Fremdheit skizziert werden. In kleinen Begegnungen lernt sie Attila kennen, die buckligen Geschwister, den Zahnlosen, Zoran aus Amerika, den Nachbarn, der Harmonika spielt, und erfährt Geschichten über andere. So setzt sie Impressionen und Anekdoten mit dem Bewusstsein, nie eine vollständige Geschichte erzählen zu können. Hier wurzelt es sich schwer, hier geht einer leicht verloren wie in der tragischen Liebesgeschichte am Ende. Die Beschreibungen der dominanten Landschaft haben manchmal etwas Tröstendes – wenn man merkt, wie wackelig die Menschengeschichten in dieser Gegend behaust sind. Das wird manchmal nur in kurzen Sätzen deutlich, etwa in Verweisen bei einem Ausflug nach Arad auf der rumänischen Seite, dass es hier einmal ein »Serbenviertel« gab: »Aber die Serben sind schon lange fort. … Um unsere Synagoge war das jüdische Viertel, … drüben wohnten die Deutschen.« Man versteht, wenn jemand sagt, hier gäbe es keine Steine, nur Erde, »ein Staubland, dem Wind verfallen«. Eben: dieser Wind. Und der seismische Untergrund.
Gewissermaßen auf dem Gegenpol bewegt sich Zoran Zivkovic mit seinen Fantasy-Novellen in Der unmögliche Roman. Er gewann schon mal 2003 einen »World Fantasy Award« und ist international in ein paar renommierten Verlagen vertreten. Er versteht sein Handwerk, hat eine flüssige Schreibe – und ist ein Trickser. Der Titel seines Buches ist wörtlich zu nehmen, in Wirklichkeit handelt es sich um Erzählungen, die zwar durch Figuren, Gegenstände und Themen da und dort lose verknüpft sind. Sehr lose. Als Roman kann man ihn jedoch unmöglich durchgehen lassen.
Als allwissender Erzähler hätte er es nicht schwer, sich eine Handlung zu zimmern und die Puppen tanzen zu lassen. So aber wird man irgendwann – eher früher – zunehmend genervt von den altmodischen Zeitreisen in Vergangenheit und Zukunft mit einer altmodischen Taschenuhr und den vermeintlich existenziellen Seinsfragen, die da aufgeworfen werden, nämlich, wenn ich in der Vergangenheit ein Steinchen verrücke, wie anders verrückt wird die gegenwärtig ohnehin schon genug verrückte Welt dann, oder was geschieht mit mir, wenn ich in die Zukunft sehen kann und die Umstände meines Todes erfahre, wie lebe ich dann mit diesem Wissen und so weiter, also Fragen, die jeden großserbischen Mystiker bestimmt brennend beschäftigen. Als oberallwissende Autoritäten treten auch noch Gott und der Teufel auf. Aber um Ethik geht es weniger als um Spannung. Manchmal bläst ein kräftiger Wind, aber nicht aus der Vojvodina, denn die Realität, erst recht die Gegenwart, meidet Zivcovic wie der Teufel das Weihwasser. Das Buch steht wohl, so ist zu hoffen, nicht symptomatisch für serbische Befindlichkeiten.
Noch einmal ein Gegenpol: Wie es ganz anders gehen kann, zeigt Dragana Mladenovic mit ihrem Gedichtband Verwandtschaft sehr prägnant. Drei Portionen scharfer Schnaps. Erster Abschnitt: Zwei Schwestern berichten aus der desolaten serbischen Familie. Opa gräbt Tschetnik-Knochen aus Weltkrieg Zwei aus (glaubt er). Vater lebt im Fernsehsessel, ein Onkel lebt seit der Nato-Bombardierung im Keller. Ein anderer Onkel bringt einen geheimen Gast, Stillschweigen muss gewahrt werden. Lauter Zerrüttete, verwandt sein bedeutet verschweigen. Da hat es in die Sprache gehagelt. Keine Kommunikation, knapp die Gedichte, lakonisch, keine Bilder.
Zweiter Abschnitt: ein Verhörprotokoll. Ein Mann geht zur Polizei, zeigt einen Familiengast an: Kriegsverbrecher. Der geschlossene Kreis der Familie wird geknackt. Doch keine Lösung – die Polizei, auch ein Rechtsfall, bezeichnet den Mann als paranoid. Der Rechtsuchende wird zum Verräter der Familie, der zerrüttete Kreis schließt sich wieder.
Dritter Abschnitt: Außenwelt. Eine bosnische Frau hat Mann und Sohn im Krieg verloren, besucht ihre Nichte in Amsterdam, weil sie einem Kriegsverbrecherprozess beiwohnen will. Kurze Gedichte. Die junge Frau klar im Verhältnis zur Realität, die Tante gebrochen durch die Last der Erfahrung.
Zwischen diesen beiden Polen, der zerrütteten serbischen Familie und der bosnischen Exilantenfamilie bewegt sich diese äußerst kurz angebundene Gedankenlyrik, die Moral und Selbstverleugnung anreißt, ebenso Fragen des Rechts und der Kriegsverbrechen und schließlich auch, wie man sich nach diesen Erfahrungen der Zukunft stellen soll. Ist bei Esther Kinsky die Seismik des Untergrunds nur angedeutet, so scheint bei Dragana Mladenovic jedes Wort zu beben. Als »Schlüsselwerk für die serbische Literatur« wurde ihr Buch bereits bezeichnet; im literarischen Mainstream liegt sie bestimmt nicht.
«opa stanko hat gestern
einen knochen ausgegraben
von der tür aus rief er
ein mann
leute
ein mann
darin
war nichts
ausreichend glückliches
oder ausreichend lustiges
noch ausreichend trauriges um
darüber weinen zu können
das war der sechste
mann den
opa stanko
in diesem monat ausgegraben hat.«
Wieder ganz anders: David Albaharis kurze und kürzeste Geschichten, »dauerhafte Wahrheiten über Liebe, Traurigkeit und den ganzen Rest«. Aber beileibe keine Reste. Albahari, einst »Shootingstar« der Belgrader Szene, Vorstand der Jüdischen Gemeinde, nun schon lange in Kanada, ist Fortsetzer und Neuerer, gerade an diesen kleinen Storys merkt man das. Manche sind einfach elegant, andere existenziell, einige haben den Sound des Exils drauf und so weiter. Spätestens nach der fünften geistert einem das blöde Wort »schön« im Hirn herum. Vielleicht, weil es Impressionen weckt, dass vieles tief »mitteleuropäisch« ist, also nicht erklärbar. Von fern her flüstert es kakanisch, und zwischen den Zeilen flanieren die wunderbaren serbischen, kroatischen, ungarischen, jüdischen Dichter Mitteleuropas, vor allem die surrealen. Ordentliches Gepäck. Und draus wird dann noch ein ganz eigener und neuer Sound. Bei aller Weltgewandtheit des Autors ist man gleich mittenrein nach Belgrad versetzt. »Drei Frauen«, das könnte in jedem Land der Welt passieren, doch der Täter heißt eben Jovan. Vielleicht liegt es an dieser Art, sich ins Surreale hineinzuschreiben, ohne groß über Grenzen zu sprechen. Kühe gibt es auch in Kanada. Aber nur hier, in dieser Region mit den seismischen Böden ist es eine dauerhafte Wahrheit und taugt daher zum Buchtitel: Die Kuh ist ein einsames Tier.
Schon 1968 erschien László Végels Roman Bekenntnisse eines Zuhälters, erst jetzt wurde er übersetzt. Verstaubt? Er wurde zu Recht ordentlich gefeiert, manchmal sogar mit Jerome D. Salinger verglichen, des Öfteren als Pendant zu Bora Cosic’ Roman Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution gelobt – sozusagen als ein markanter »68er-Roman des alten Jugoslawiens«. Da ist was dran.
Blue, der Icherzähler, studiert an der Uni in Novi Sad und streift mit seinen Freunden durch die Straßen und Kneipen der Stadt. Es ist eine Zeit des relativen Wohlstands, die Gesellschaft differenziert sich, eine Mittelschicht hat sich herausgebildet, parteinahe und reich. Blue kommt »von unten«, dank eines Jobs bei einem Ingenieur, heimlich dessen Sexszenen mit jungen Frauen zu fotografieren, hat er eine Zeit lang regelmäßig Geldeinnahmen und lässt es sich gut gehen. Herumziehen, Partys, Trinken, Frauen anbaggern. Und ist doch unzufrieden, unruhig, ein Suchender.
Aus Stimmungen, Tagesbanalitäten, Befindlichkeiten und Gesprächen der jungen Menschen gelingt es László Végel, einen unglaublich facettenreichen Kosmos herbeizuzaubern. Es zieht einen geradezu in sein Buch hinein. Manches kommt einem bekannt vor, diese ungestüme Sehnsucht, die Welt zu verbessern, diese Ohnmacht gegenüber der älteren Generation, die alles in der Hand hat, die Macht und die Fabriken, das bittere Gefühl der Enteignung, fremd im eignen Land zu sein, die Verlogenheit der Mächtigen, ihr Zynismus, ihre hohlen Sprüche. Da versammelt sich viel Wut und bleibt doch zu undifferenziert oder verstrickt sich in persönlichen Rivalitäten der orientierungslosen Jugendlichen, das goldene Zeitalter ist alles andere als glücklich. Sozialistischer Kleinbürgermief, knietief.
Nichts da mit der »guten alten Zeit«. Schon damals wurde vieles und Wichtiges unter den jugoslawischen Teppich gekehrt, blieb dort liegen, bis es zu gären begann. Dabei ist Végels Roman durchaus komisch, lebensprall und sehr menschlich. In Serbien ist er damals kaum aufgefallen. Bei den Ungarn schon. Nicht zufällig preist es Péter Esterházy als einen »Meilenstein für die moderne ungarische Literatur«. Nachträglich ein Beitrag zur Dämpfung von Nostalgie. Vor allem aber ein ergreifendes Buch.
Esther Kinsky: Banatsko. Roman, Berlin (Matthes & Seitz Verlag) 2011 (243 S., 19,90 €)
Zoran Zivkovic: Der unmögliche Roman. Aus dem Serbischen von Margit Jugo und Astrid Philippsen, Köln (DuMont Verlag) 2011 (480 S., 24,99 €)
Dragana Mladenovic: Verwandtschaft. Gedichte. Aus dem Serbischen von Jelena Dabiæ, Wien (Edition Korrespondenzen) 2011 (145 S., 16,00 €)
David Albahari: Die Kuh ist ein einsames Tier. Kurze Geschichten und dauerhafte Wahrheiten über Liebe, Traurigkeit und den ganzen Rest. Aus dem Serbischen übertragen von Mirjana und Klaus Wittmann, Frankfurt am Main (Eichborn Verlag) 2011 (144 S., 16,95 €)
László Végel: Bekenntnisse eines Zuhälters. Roman. Aus dem Ungarischen von Lacy Kornitzer, Berlin (Matthes & Seitz Verlag) 2011 (255 S., 19,90 €)