Ein kurzes Kapitel aus dem RomanDIE SÜHNEvonLászló Végel
Bald darauf betraten die deutschen Grenzpolizisten in ihren grünen Uniformen den Bus. Mit den Scannern, Mobiltelefonen und anderen elektronischen Gerätschaften, die an ihren Gürteln hingen und blinkten, wirkten sie wie Kosmonauten. Sie nahmen unsere Pässe entgegen, drehten und wendeten sie, schoben sie mit düsterer Miene in den Scanner, leuchteten sie durch, legten sie in einen anderen blinkenden Apparat, und da dieser nichts Verdächtiges anzeigte, reichten sie sie uns Reisenden mit einer entschiedenen Handbewegung zurück und stiegen nach einem knappen „Danke“, dem sie ein breites Lächeln hinterherschickten, wieder aus.Der Reisebegleiter gab dem Fahrer das Zeichen und wir fuhren los. Das hätten wir überstanden, sagte er. Doch es hätte auch schief gehen können; ich flehe Sie an, meine Herrschaften, reisen Sie in Zukunft nur mit echten Papieren in die Länder der EU. Sonst bringen Sie unsere Firma in Verruf, dabei war es für sie schon schwer genug, sich ein wenig Ansehen zu verschaffen.Ein paar Reisende lachten. Wir hatten der EU einen Streich gespielt. Fünf gefälschte Pässe, gegen die ihre schlauen Geräte nichts auszurichten vermocht hatten. Welch ein Meisterstück. Da braucht es keinen Scanner, sondern Verstand.Der Bus glitt über die Grenze, wir waren in Deutschland. Witze wurden gerissen, man wieherte über die naiven Europäer, die sich einbildeten, den Leuten vom Balkan das Wasser reichen zu können.Aber ich bin ein Deutscher und kein Balkaner, sagte ein Junge aufmüpfig.Nein. Du bist kein Deutscher, sondern ein serbischer Junge, klärt ihn seine Mutter auf. Ich weiß nicht, was mit ihm los ist, immerzu will er Deutscher sein. Nicht immer, nur wenn es ihn überkommt, aber dann versteht er plötzlich kein Serbisch mehr.Kein Problem, das gibt es auch bei uns, leider, murmelt ihr Nachbar unter dem Schnurrbart.Das stimmt schon. Manchmal wünscht man sich halt, man wäre ein Deutscher. Besonders wenn es einem gut geht. Na ja. Es wäre gar nicht schlecht, wenn man Deutscher wäre, wenigstens für kurze Zeit. Nur um es auszuprobieren. Auch ich rede mit meiner Frau öfter deutsch, sagte ein Mann mit tiefem Bariton auf einem der hinteren Sitze.Ein anderer, der sich die ganze Nacht zuvor über die Wichtigkeit der Wurzeln ausgelassen hatte, sagte zornig: Das kommt davon, dass der arme Junge ohne Heimat aufgewachsen ist. Domovina, domovina, wiederholte er auf Serbisch. Sie ist verloren, ein Jammer. Domovina und Heimat, das ist nicht dasselbe.Das Kind rief wieder: Ich bin Deutscher, ich bin Deutscher.Gut, gut, beruhigte ihn die Mutter. Du bist ein Deutscher. Auch mein Vater ist deutsch, und meine Mutter auch, sagte der Junge.Klar, dein Vater wie deine Mutter.Ich blickte neugierig zu dem Jungen. Ich bin so aufgewachsen, dass ich als kleiner Partisan gegen die Deutschen kämpfte. Aber man konnte nicht gegen sie kämpfen, denn keiner der Spielkameraden wollte deutscher Soldat sein, sondern ausschließlich ein Partisan. Am Ende überredeten wir die Roma von der nahe gelegenen Siedlung, die Deutschen zu spielen. Sie waren einverstanden, vorausgesetzt, sie bekämen im Tausch dafür eine Portion Eis. Sagt uns Bescheid, wenn ihr soweit seid, wir sind bereit, sagten sie. Auf diese Weise besiegten wir die Deutschen, mindestens einmal die Woche, denn es gehörte zur Bedingung, dass sich die Roma von uns besiegen ließen. Am Ende des Spiels schritten sie mit erhobenen Händen auf uns zu, und wir jauchzten triumphierend: Wir haben gesiegt! Wir haben die Deutschen besiegt! Dann sammelten wir das Kleingeld zusammen und gaben es ihnen für ihr wohlverdientes Eis. Da rannten die Romajungs zur Konditorei und sagten sich beim Eisschlecken zufrieden: Deutscher sein ist gar nicht so übel.Wir alle sind Deutsche, sagte der Junge hartnäckig. Die Mutter blickte sich ängstlich um und sagte, gut, gut, wir sind Deutsche, allesamt.Erstaunlicherweise gab es unter den Reisenden keinerlei Einwände. Friedlich unterhielten sie sich weiter, als hätten sie nichts gehört. Ich muss unbedingt zum Sozialamt, wegen der Hilfe für das Kind, sagte die Albanerin, die ihren Sprössling im Schoß wiegte. Ihr Sitznachbar, ein Serbe, wie mir alsbald klar geworden war, erklärte ihr bereitwillig, wie man sich dort am besten verhielt. Die deutschen Beamten sind äußerst schlau, so der Serbe, ich aber habe sie geschickt ausgetrickst. Mein Vater kriegt seine Sozialhilfe, obwohl er schon seit Monaten zurück in Serbien ist. Dabei sind sie unheimlich geizig, im Sozialamt, die drehen jeden Cent um. Wie viele Kinder haben Sie?Fünf.Und Ihr Mann? Hat er Arbeit?Manchmal, erwiderte die Albanerin nach kurzem Zögern.Das macht es etwas schwieriger, meinte der Serbe, aber lassen Sie es trotzdem nicht unversucht. In einer Mischsprache mit reichlich holprigem Deutsch schwatzten sie weiter, während der Tarzan-Deutsche mit seinen albernen Sätzen immer wieder für gute Stimmung sorgte. Im Bus war es zunehmend familiär geworden, so unvorstellbar es auch war, Albaner, Makedonier, Kroaten, Serben und Roma unterhielten sich freundschaftlich, sie verstanden sich prächtig. Sie beteuerten einander, was für echte Berliner sie seien, und ganz gleich, wer es behauptete, von allen Seiten kam einhellige Zustimmung. Einfache Leute: Kellner, Putzleute, Toilettenfrauen, Leute von der Kasse in Discountläden, Kraftfahrer, Gepäckträger und so weiter überboten sich in ihrer Berlinbegeisterung.Dadurch ermuntert, drehte ich mich nach hinten um und fragte die Frau aus Újvidék, ob sie auch schon da gewesen sei, als die Mauer in Berlin fiel Selbstverständlich, antwortete sie, seit dreißig Jahren lebe und arbeite sie in Berlin.Und wie war das?Ich habe es gar nicht mitbekommen. Ich erinnere mich nur, dass sich in den Aldiläden plötzlich riesige Schlangen bildeten. Alles Ostberliner. Es gab welche, die dreißig Kilo Bananen auf einmal kauften. Aber nicht nur Bananen, die Ossis kauften alles auf, was es in den Läden gab. Auch die Lagerbestände verschwanden, ich konnte meine Arbeit kaum bewältigen. Der Geschäftsführer griff sich ständig an den Kopf und telefonierte die ganze Zeit nur noch herum, um Nachschub zu organisieren. Ich fragte Milanka an der anderen Kasse, was denn los sei, was in die Deutschen gefahren sei. Milanka blickte mich verwundert an: Weißt du denn nicht? In der Nacht haben die Deutschen die Mauer eingerissen. Die Ostberliner haben Westberlin überflutet, weil ihnen die Westler Geld gegeben haben, Begrüßungsgeld. Worauf sie die ganze Stadt leer geräumt haben Sie haben die Mauer eingerissen?, fragte ich ungläubig. Wie ist das möglich? Milanka zuckte mit den Schultern. Wer weiß, wie es enden wird, seufzte sie. Vielleicht kommt es zum Krieg. Krieg! Ganz gewiss. Und da bleibt uns nichts anderes übrig, als unsere Sachen zu packen und zurück in die Heimat zu gehen. Zu Hause erzählte ich meinem Mann, dass es mit der Mauer vorbei ist. Aber er wusste es schon, man hatte es sich in der Fabrik erzählt. Was wird jetzt aus uns, fragte ich ihn. Stimmt es, dass es zum Krieg kommt? Man hat es im Aldi behauptet. Mein Mann sagte nur, wenn die Mauer gefallen ist, dann wird es Krieg geben, aber vielleicht nicht direkt in Berlin. In den Grundfesten der Mauer liegt schon so viel Blut, dass man es nicht ohne weiteres verschwinden lassen kann. Irgendwo wird es Krieg geben, soviel ist sicher. Bis dahin sollten wir uns einfach still verhalten.Krieg? Woher denn?, lächelte der spindeldürre Makedonier. Die Deutschen haben gefeiert, ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen. Der eine von ihnen wusste nicht, wie er mit der Schweißpistole umgehen soll, er konnte sie einfach nicht anzünden. Kein Strom, sagte ich zu ihm. Er blinzelte, warf die Schweißpistole hin und schrie: Freiheit, Freiheit. Na, dachte ich, was nützt die Freiheit ohne die Schweißpistole. Bis jemand durch ein langes Kabel Strom herbeigeschafft hatte, da zündete ich die Schweißpistole an, streckte sie hoch und stürzte zur Mauer. Freiheit, Freiheit, brüllte ich aus vollem Hals. Ich werde den Deutschen schon zeigen, was Freiheit ist. Jenseits der Mauer war die Menge ebenfalls außer sich, auch dort wurde auf die Maue
r eingeschlagen, doch da, wo wir waren, habe ich sie als erster durchbrochen. Die Deutschen trugen mich auf den Schultern bis zum Brandenburger Tor, dort gab es Würstchen mit Senf. So aß ich die Würstchen, über den Köpfen der feiernden Menge und schrie: Freiheit, Freiheit. Hinterher war ich so erschöpft, dass ich nur mit Mühe nach Hause schwankte. Zu Hause kreischte meine Frau, was mit mir los sei, so durcheinander zu reden, und was die Senfflecken auf meinem Sakko zu suchen hätten. Sogar in meinem Halsansatz war Senf. Ich sagte, lassen wir die Flecken, ich hätte die Mauer mit einer Schweißpistole niedergerissen. Darauf wurde sie noch lauter, ich solle sie anhauchen, ich sei bestimmt betrunken, kein Wunder, dass ich in meinem Delirium die Mauer eingerissen hätte, versoffenes Schwein! Ich hauchte sie an. Ich hatte natürlich nicht die Spur einer Promille in mir. Meine Frau blinzelte nervös und schaltete den Fernseher ein. Tatsächlich, staunte sie. Na siehst du, mein Seelchen, sagte ich beim Anblick des Volksfestes auf dem Bildschirm, die Mauer existiert nicht mehr, ich habe sie zerstört, und du kommst mir mit Senfflecken.Das mag schon sein, mischte sich einer mit rundem Hut auf dem Kopf ein, aber das ist nichts im Vergleich zu dem Dreck. Der Vorarbeiter brüllte, bis zum nächsten Morgen müsse die Stadt wieder putzsauber sein. Aber wie, wo alles voller Steine und Mörtel war? In Charlottenburg war es ziemlich einfach, denn da hatte es keinen Tumult gegeben. Ich wurde aber nicht dorthin, sondern nach Kreuzberg eingeteilt. Die Türken staunten nicht schlecht über die Deutschen, die mit allen möglichen Kartonschachteln, Plastiktüten herumgeworfen und geschrieen hatten, obwohl kein Wochenende war. Na klar, die haben gefeiert. Wochenlang noch sammelten wir den Müll ein. Wir schaffen das nie, dachte ich, es schien immer mehr zu werden und uns zu ertränken. Dann saugte ich mit dem großen Staubsauger, den es nur in Deutschland gibt, den Staub an der kaputten Mauer entlang auf, nachdem ich die Mauerstücke in einen Container getragen hatte, doch da wurde ich von einem Deutschen angepöbelt: Bist du verrückt, was machst du da? Das sind Stücke der europäischen Geschichte. So gehen also Fremde mit unserer Geschichte um! Pass doch auf und hol die sofort wieder aus dem Haufen heraus. Voller Schreck begann ich, die Steine wieder aus dem Container herauszunehmen, denn ich wollte keine Schwierigkeiten bekommen. Ein paar Jahre später erblickte ich in einem Türkenladen Postkarten, auf denen kleine Mauerstücke in durchsichtigen Plastikschachteln zu sehen waren. Sofort schickte ich eine an meinen Schwager in Serbien. Siehst du, schrieb ich dazu, das ist die berühmte deutsche Geschichte, und ich habe auf sie aufgepasst. Er hat aber nichts verstanden. Er fragte mich, was das für Splitter seien, die ich ihm nach Hause schicke, er habe davon in Serbien mehr als genug. Ich solle ihm besser D-Mark schicken. Die blauen Adler! Und wie recht doch der Deutsche hatte, nur dass ich länger gebraucht habe, um es zu begreifen. Es war Geschichte, aber während ich die Straßen säuberte, kümmerte ich mich nicht darum, was um mich herum passierte. Übrigens lese ich auch Zeitungen. Jeden Samstag hole ich mir den Tagesspiegel. Jawohl, und dann durchstöbere ich mit meiner Frau das Kinoprogramm, denn in Berlin gibt es ganz viele Kinos, und gehe gern dorthin, schon als Kind liebte ich es. Im Tagesspiegel stand, dass es tatsächlich Geschichte war, das Problem ist nur, dass ihr zu blöd seid, um Zeitungen zu lesen. Ein historisches Ereignis, so hat es dringestanden. Wisst ihr, was das ist, ein historisches Ereignis? Ihr habt keine Ahnung, ihr zerbrecht euch die Köpfe nur über eure selbstgemachte Paprikawurst. Und über den gegrillten Lammbraten, über die Deutsche Mark und jetzt über den Euro. Über meine fünf Euro. Ein historisches Ereignis ist, wenn der Blitz einschlägt und keiner weiß, wen er trifft.Jetzt hatten die Reisenden im Bus genug. Und ob sie wüssten, was ein historisches Ereignis ist! Geduldig erklärte die Frau aus der Woiwodina dem Mann mit dem runden Hut, er solle die einfachen Leute nicht unterschätzen, schließlich wüssten sie sehr wohl, was ein historisches Ereignis sei. Sie selbst wüsste es auch. Der Chef hat gesagt, sagte sie, dass auch die Einführung des Euro ein historisches Ereignis sei. Deshalb irre sich der Herr mit Hut, wenn er auf die gemeinsame Währung schimpft. Und der Chef hat auch gesagt, dass Europa ebenfalls ein historisches Ereignis sei. Er hat mich gelobt wegen der dreißig Jahre, die ich schon fleißig bei der Firma arbeiten würde weshalb ich die Aussicht auf ein großes Geschenk hätte. Er hat gefragt, ob ich zur Kirche ginge. Selbstverständlich gehe ich in die Kirche, jeden Sonntagvormittag, wenn ich nicht zur Arbeit muss, ich gehe in die evangelische Kirche. Der Chef hat genickt und gesagt, in Ordnung, er sei froh darüber, denn jeder Europäer gehe in die Kirche. Ein Europäer bete, sühne und erbitte Gnade. Ein echter Europäer würde immer sühnen, hat er gesagt. Wüsste ich denn, hat er gefragt, was Sühne sei. Und ob ich es wüsste, habe ich gesagt, Sühne ist, wenn mich mein Mann schlägt und ich hinterher heule. Der Chef hat gelacht und gesagt, in Ordnung, Sühne sei zwar nicht gerade das, aber so was Ähnliches. Nach der Messe kaufe ich immer Käsekuchen und bringe ihn meinem Mann mit, damit er es auch schön hat, denn er will nicht in die evangelische Kirche, weil er ortodox ist. Das sei vollkommen gleich, habe ich zu ihm gesagt, auch ich sei ortodox, aber es gebe nun mal nur einen Gott. Wichtig sei nur, dass wir beten, das Gebet für Frieden und für die Liebe. Ich würde für ihn beten und auch für Deutschland, damit nichts passiert und ich meine Rente bekomme und Aussicht auf schöne Geschenke habe. Dieses Bekenntnis verstimmte einige im Bus. Es sei nicht Ordnung, in die evangelische Kirche zu gehen, wenn sie doch ortodox sei. Auch der Mann mit dem runden Hut ließ es nicht dabei bewenden, er sagte, der Chef habe sich geirrt, mitnichten gehe jeder Europäer zur Kirche, er zum Beispiel würde den Fuß niemals in eine Kirche setzen, weder in eine evangelische noch in eine ortodoxe. In keine einzige, und trotzdem halte er sich für einen Europäer, sagte er.Der Reiseleiter kündigte die baldige Ankunft an sowie den Kaffee, den nun jeder aus Freude auf Berlin bekäme. Und damit beim Aussteigen am Busbahnhof sich alle frisch fühlten. Des Weiteren hoffe er, sagte der Reiseleiter, dass sich während der Fahrt alle wohl gefühlt hätten und die Leistungen der Busfirma auch in Zukunft in Anspruch nehmen würden.Er kam dann zu jedem einzelnen mit einem Tablett und reichte ihm den Kaffee. Möchten Sie Milch dazu? Ohne Zucker? Ich kann Ihnen auch Zuckerersatz geben. Der Bus ruckelte, aus der einen oder anderen Tasse schwappte ein wenig Kaffee, aber das störte niemanden, denn das Glück, endlich in Berlin angekommen zu sein, wischte alles andere beiseite.So ist es, meine Damen und Herren, sagte der Reiseleiter ins Mikrofon, wir sind in wenigen Minuten da. Auch ich bin außerordentlich froh, einen ganzen Tag in Berlin verbringen zu können. Ich werde eine wenig schlafen, dann streife ich durch die Gegend, von Mal zu Mal hebe ich den Kopf und grübele darüber nach, in welcher Stadt ich eigentlich bin. In Amsterdam, Paris, Zürich, Oslo, Stockholm? Denn wenn ich durch die Straßen ziehe, bin ich mir dessen oft gar nicht sicher. Doch ich gehe weiter und habe keine Angst, mich zu verirren. Deshalb habe ich mir diesen Beruf ausgesucht, und, glauben Sie mir, meine Damen und Herren, es gibt nichts Schöneres, als Chauffeur, Reisebegleiter oder Schaffner zu sein. Man legt mal hier, mal dort seinen Kopf zur Ruhe. Schon in jungen Jahren habe ich davon geträumt, Reiseleiter auf Fernreisen zu werden. Und mein Traum ist wahr geworden, wenngleich ich anfangs nicht ins Ausland durfte, denn das war nur Parteimitgliedern vorbehalten. So trat ich dann der Partei bei. Wenn das die Bedingung ist, dann ist das die Bedingung, dachte ich. Nichts gibt es ohne Gegenleistung. In der Tat wurde ich wegen Europa zum Komm
unisten. Sobald ich meinen Mitgliedsausweis in Händen hatte, wurde mir von der Direktion sofort erlaubt, die Strecke nach Wien zu fahren. Meine verehrten Damen und Herren, ich verrate Ihnen, ich kenne Wien wie meine eigene Westentasche. Und seitdem mache ich es unermüdlich weiter. Meine Frau fleht mich an, dem wilden Reisen ein Ende zu setzen und den Antrag zu stellen, mich auf die Reiseroute Kuršumlija-Niš zu versetzen, doch um nichts in der Welt würde ich diese Langstreckenrouten je für was anderes eintauschen. Was soll ich denn mit Kuršumlija-Niš? Schon immer wollte ich mich in Europa herumtreiben. Und solange ich es physisch kann, wird es so bleiben. Denn es kommt inzwischen öfter vor, dass ich unterwegs einnicke, ich habe dann Alpträume, in denen ich kaum die Bustreppe hinaufsteigen kann, um mich auf meinen Platz zu setzen. Zum Glück rüttelt mich dann der Bus aus dem Schlaf, ich gucke zum Fenster hinaus und stelle zufrieden fest, dass es Europa ist, wo ich bin. Ich lausche dem Brummen des Motors, beobachte den Fahrer und bin glücklich. Nur in der Heimat befällt mich wieder Traurigkeit. Zu Hause bedrückt mich der Gedanke, ich könnte von irgendeiner Krankheit erwischt werden und nicht mehr fahren. Manchmal habe ich Gliederschmerzen, meine Knie brennen, meine Wirbelsäule wird von stechenden Schmerzen gequält. Ich krieche aus dem Bett, spüre, dass ich wieder reisen möchte. Auch mein Sohn versteht die Situation nicht. Vergeblich versuche ich ihm beizubringen, dass auch unsere Enkelkinder Schaffner werden sollen. Er schüttelt nur den Kopf und sagt, dass sein Sohn auf alle Fälle Bankangestellter werden muss, die einzige Tätigkeit, bei der man reich werden könne. Nun ja, das ist das Problem, alle wollen nur reich werden, und nach Möglichkeiten ganz schnell. Nur das Geld zählt. Ich versuche, meinem Sohn zu erklären, dass es Dinge gibt, die wichtiger sind als Geld, wie zum Beispiel, dass man eine klare Idee hat. Meine klare Idee ist Europa. Schweig, sagt mein Sohn, für deine klaren Ideen bist du sogar der kommunistischen Partei beigetreten. Und jetzt stehst du voll Scham da. Das macht mich wiederum wütend. In meiner Wut wiederhole ich, was ich meiner Familie schon zigmal erklärt habe, dass ich allein wegen Europa Kommunist geworden bin. Mein Sohn wiehert, behauptet, noch nie im Leben einen solchen Unsinn gehört zu haben. Meine Frau mischt sich ein, winkt nur ab, sie sagt: Lasst ihn doch, er war immer schon ein bisschen spleenig. Als er zum Beispiel um meine Hand anhielt, wollte er mit mir zur Hochzeitsreise nach Tivat, wo er einmal als Schaffner herumgekommen war. Und ich habe protestiert, bist du verrückt geworden und willst das Geld am Meer verschwenden? Auch darüber lacht mein Sohn nur. Ich sage nichts. Sie würden mich sowieso nicht verstehen. Doch meine Damen und Herren, Sie, die Reisenden, verstehen bestimmt, was ich damit sagen will.
Aus dem Ungarischen von Lacy Kornitzer
DIE SÜHNE
Fragment
Bald darauf betraten die deutschen Grenzpolizisten in ihren grünen Uniformen den Bus. Mit den Scannern, Mobiltelefonen und anderen elektronischen Gerätschaften, die an ihren Gürteln hingen und blinkten, wirkten sie wie Kosmonauten. Sie nahmen unsere Pässe entgegen, drehten und wendeten sie, schoben sie mit düsterer Miene in den Scanner, leuchteten sie durch, legten sie in einen anderen blinkenden Apparat, und da dieser nichts Verdächtiges anzeigte, reichten sie sie uns Reisenden mit einer entschiedenen Handbewegung zurück und stiegen nach einem knappen „Danke“, dem sie ein breites Lächeln hinterherschickten, wieder aus.
Der Reisebegleiter gab dem Fahrer das Zeichen und wir fuhren los. Das hätten wir überstanden, sagte er. Doch es hätte auch schief gehen können; ich flehe Sie an, meine Herrschaften, reisen Sie in Zukunft nur mit echten Papieren in die Länder der EU. Sonst bringen Sie unsere Firma in Verruf, dabei war es für sie schon schwer genug, sich ein wenig Ansehen zu verschaffen.
Ein paar Reisende lachten. Wir hatten der EU einen Streich gespielt. Fünf gefälschte Pässe, gegen die ihre schlauen Geräte nichts auszurichten vermocht hatten. Welch ein Meisterstück. Da braucht es keinen Scanner, sondern Verstand.
Der Bus glitt über die Grenze, wir waren in Deutschland. Witze wurden gerissen, man wieherte über die naiven Europäer, die sich einbildeten, den Leuten vom Balkan das Wasser reichen zu können.
Aber ich bin ein Deutscher und kein Balkaner, sagte ein Junge aufmüpfig.
Nein. Du bist kein Deutscher, sondern ein serbischer Junge, klärt ihn seine Mutter auf. Ich weiß nicht, was mit ihm los ist, immerzu will er Deutscher sein. Nicht immer, nur wenn es ihn überkommt, aber dann versteht er plötzlich kein Serbisch mehr.
Kein Problem, das gibt es auch bei uns, leider, murmelt ihr Nachbar unter dem Schnurrbart.
Das stimmt schon. Manchmal wünscht man sich halt, man wäre ein Deutscher. Besonders wenn es einem gut geht. Na ja. Es wäre gar nicht schlecht, wenn man Deutscher wäre, wenigstens für kurze Zeit. Nur um es auszuprobieren. Auch ich rede mit meiner Frau öfter deutsch, sagte ein Mann mit tiefem Bariton auf einem der hinteren Sitze.
Ein anderer, der sich die ganze Nacht zuvor über die Wichtigkeit der Wurzeln ausgelassen hatte, sagte zornig: Das kommt davon, dass der arme Junge ohne Heimat aufgewachsen ist. Domovina, domovina, wiederholte er auf Serbisch. Sie ist verloren, ein Jammer. Domovina und Heimat, das ist nicht dasselbe.
Das Kind rief wieder: Ich bin Deutscher, ich bin Deutscher.
Gut, gut, beruhigte ihn die Mutter. Du bist ein Deutscher. Auch mein Vater ist deutsch, und meine Mutter auch, sagte der Junge.
Klar, dein Vater wie deine Mutter.
Ich blickte neugierig zu dem Jungen. Ich bin so aufgewachsen, dass ich als kleiner Partisan gegen die Deutschen kämpfte. Aber man konnte nicht gegen sie kämpfen, denn keiner der Spielkameraden wollte deutscher Soldat sein, sondern ausschließlich ein Partisan. Am Ende überredeten wir die Roma von der nahe gelegenen Siedlung, die Deutschen zu spielen. Sie waren einverstanden, vorausgesetzt, sie bekämen im Tausch dafür eine Portion Eis. Sagt uns Bescheid, wenn ihr soweit seid, wir sind bereit, sagten sie. Auf diese Weise besiegten wir die Deutschen, mindestens einmal die Woche, denn es gehörte zur Bedingung, dass sich die Roma von uns besiegen ließen. Am Ende des Spiels schritten sie mit erhobenen Händen auf uns zu, und wir jauchzten triumphierend: Wir haben gesiegt! Wir haben die Deutschen besiegt! Dann sammelten wir das Kleingeld zusammen und gaben es ihnen für ihr wohlverdientes Eis. Da rannten die Romajungs zur Konditorei und sagten sich beim Eisschlecken zufrieden: Deutscher sein ist gar nicht so übel.
Wir alle sind Deutsche, sagte der Junge hartnäckig. Die Mutter blickte sich ängstlich um und sagte, gut, gut, wir sind Deutsche, allesamt.
Erstaunlicherweise gab es unter den Reisenden keinerlei Einwände. Friedlich unterhielten sie sich weiter, als hätten sie nichts gehört. Ich muss unbedingt zum Sozialamt, wegen der Hilfe für das Kind, sagte die Albanerin, die ihren Sprössling im Schoß wiegte. Ihr Sitznachbar, ein Serbe, wie mir alsbald klar geworden war, erklärte ihr bereitwillig, wie man sich dort am besten verhielt. Die deutschen Beamten sind äußerst schlau, so der Serbe, ich aber habe sie geschickt ausgetrickst. Mein Vater kriegt seine Sozialhilfe, obwohl er schon seit Monaten zurück in Serbien ist. Dabei sind sie unheimlich geizig, im Sozialamt, die drehen jeden Cent um. Wie viele Kinder haben Sie?
Fünf.
Und Ihr Mann? Hat er Arbeit?
Manchmal, erwiderte die Albanerin nach kurzem Zögern.
Das macht es etwas schwieriger, meinte der Serbe, aber lassen Sie es trotzdem nicht unversucht. In einer Mischsprache mit reichlich holprigem Deutsch schwatzten sie weiter, während der Tarzan-Deutsche mit seinen albernen Sätzen immer wieder für gute Stimmung sorgte. Im Bus war es zunehmend familiär geworden, so unvorstellbar es auch war, Albaner, Makedonier, Kroaten, Serben und Roma unterhielten sich freundschaftlich, sie verstanden sich prächtig. Sie beteuerten einander, was für echte Berliner sie seien, und ganz gleich, wer es behauptete, von allen Seiten kam einhellige Zustimmung. Einfache Leute: Kellner, Putzleute, Toilettenfrauen, Leute von der Kasse in Discountläden, Kraftfahrer, Gepäckträger und so weiter überboten sich in ihrer Berlinbegeisterung.
Dadurch ermuntert, drehte ich mich nach hinten um und fragte die Frau aus Újvidék, ob sie auch schon da gewesen sei, als die Mauer in Berlin fiel Selbstverständlich, antwortete sie, seit dreißig Jahren lebe und arbeite sie in Berlin.
Und wie war das?
Ich habe es gar nicht mitbekommen. Ich erinnere mich nur, dass sich in den Aldiläden plötzlich riesige Schlangen bildeten. Alles Ostberliner. Es gab welche, die dreißig Kilo Bananen auf einmal kauften. Aber nicht nur Bananen, die Ossis kauften alles auf, was es in den Läden gab. Auch die Lagerbestände verschwanden, ich konnte meine Arbeit kaum bewältigen. Der Geschäftsführer griff sich ständig an den Kopf und telefonierte die ganze Zeit nur noch herum, um Nachschub zu organisieren. Ich fragte Milanka an der anderen Kasse, was denn los sei, was in die Deutschen gefahren sei. Milanka blickte mich verwundert an: Weißt du denn nicht? In der Nacht haben die Deutschen die Mauer eingerissen. Die Ostberliner haben Westberlin überflutet, weil ihnen die Westler Geld gegeben haben, Begrüßungsgeld. Worauf sie die ganze Stadt leer geräumt haben Sie haben die Mauer eingerissen?, fragte ich ungläubig. Wie ist das möglich? Milanka zuckte mit den Schultern. Wer weiß, wie es enden wird, seufzte sie. Vielleicht kommt es zum Krieg. Krieg! Ganz gewiss. Und da bleibt uns nichts anderes übrig, als unsere Sachen zu packen und zurück in die Heimat zu gehen. Zu Hause erzählte ich meinem Mann, dass es mit der Mauer vorbei ist. Aber er wusste es schon, man hatte es sich in der Fabrik erzählt. Was wird jetzt aus uns, fragte ich ihn. Stimmt es, dass es zum Krieg kommt? Man hat es im Aldi behauptet. Mein Mann sagte nur, wenn die Mauer gefallen ist, dann wird es Krieg geben, aber vielleicht nicht direkt in Berlin. In den Grundfesten der Mauer liegt schon so viel Blut, dass man es nicht ohne weiteres verschwinden lassen kann. Irgendwo wird es Krieg geben, soviel ist sicher. Bis dahin sollten wir uns einfach still verhalten.
Krieg? Woher denn?, lächelte der spindeldürre Makedonier. Die Deutschen haben gefeiert, ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen. Der eine von ihnen wusste nicht, wie er mit der Schweißpistole umgehen soll, er konnte sie einfach nicht anzünden. Kein Strom, sagte ich zu ihm. Er blinzelte, warf die Schweißpistole hin und schrie: Freiheit, Freiheit. Na, dachte ich, was nützt die Freiheit ohne die Schweißpistole. Bis jemand durch ein langes Kabel Strom herbeigeschafft hatte, da zündete ich die Schweißpistole an, streckte sie hoch und stürzte zur Mauer. Freiheit, Freiheit, brüllte ich aus vollem Hals. Ich werde den Deutschen schon zeigen, was Freiheit ist. Jenseits der Mauer war die Menge ebenfalls außer sich, auch dort wurde auf die Mauer eingeschlagen, doch da, wo wir waren, habe ich sie als erster durchbrochen. Die Deutschen trugen mich auf den Schultern bis zum Brandenburger Tor, dort gab es Würstchen mit Senf. So aß ich die Würstchen, über den Köpfen der feiernden Menge und schrie: Freiheit, Freiheit. Hinterher war ich so erschöpft, dass ich nur mit Mühe nach Hause schwankte. Zu Hause kreischte meine Frau, was mit mir los sei, so durcheinander zu reden, und was die Senfflecken auf meinem Sakko zu suchen hätten. Sogar in meinem Halsansatz war Senf. Ich sagte, lassen wir die Flecken, ich hätte die Mauer mit einer Schweißpistole niedergerissen. Darauf wurde sie noch lauter, ich solle sie anhauchen, ich sei bestimmt betrunken, kein Wunder, dass ich in meinem Delirium die Mauer eingerissen hätte, versoffenes Schwein! Ich hauchte sie an. Ich hatte natürlich nicht die Spur einer Promille in mir. Meine Frau blinzelte nervös und schaltete den Fernseher ein. Tatsächlich, staunte sie. Na siehst du, mein Seelchen, sagte ich beim Anblick des Volksfestes auf dem Bildschirm, die Mauer existiert nicht mehr, ich habe sie zerstört, und du kommst mir mit Senfflecken.
Das mag schon sein, mischte sich einer mit rundem Hut auf dem Kopf ein, aber das ist nichts im Vergleich zu dem Dreck. Der Vorarbeiter brüllte, bis zum nächsten Morgen müsse die Stadt wieder putzsauber sein. Aber wie, wo alles voller Steine und Mörtel war? In Charlottenburg war es ziemlich einfach, denn da hatte es keinen Tumult gegeben. Ich wurde aber nicht dorthin, sondern nach Kreuzberg eingeteilt. Die Türken staunten nicht schlecht über die Deutschen, die mit allen möglichen Kartonschachteln, Plastiktüten herumgeworfen und geschrieen hatten, obwohl kein Wochenende war. Na klar, die haben gefeiert. Wochenlang noch sammelten wir den Müll ein. Wir schaffen das nie, dachte ich, es schien immer mehr zu werden und uns zu ertränken. Dann saugte ich mit dem großen Staubsauger, den es nur in Deutschland gibt, den Staub an der kaputten Mauer entlang auf, nachdem ich die Mauerstücke in einen Container getragen hatte, doch da wurde ich von einem Deutschen angepöbelt: Bist du verrückt, was machst du da? Das sind Stücke der europäischen Geschichte. So gehen also Fremde mit unserer Geschichte um! Pass doch auf und hol die sofort wieder aus dem Haufen heraus. Voller Schreck begann ich, die Steine wieder aus dem Container herauszunehmen, denn ich wollte keine Schwierigkeiten bekommen. Ein paar Jahre später erblickte ich in einem Türkenladen Postkarten, auf denen kleine Mauerstücke in durchsichtigen Plastikschachteln zu sehen waren. Sofort schickte ich eine an meinen Schwager in Serbien. Siehst du, schrieb ich dazu, das ist die berühmte deutsche Geschichte, und ich habe auf sie aufgepasst. Er hat aber nichts verstanden. Er fragte mich, was das für Splitter seien, die ich ihm nach Hause schicke, er habe davon in Serbien mehr als genug. Ich solle ihm besser D-Mark schicken. Die blauen Adler! Und wie recht doch der Deutsche hatte, nur dass ich länger gebraucht habe, um es zu begreifen. Es war Geschichte, aber während ich die Straßen säuberte, kümmerte ich mich nicht darum, was um mich herum passierte. Übrigens lese ich auch Zeitungen. Jeden Samstag hole ich mir den Tagesspiegel. Jawohl, und dann durchstöbere ich mit meiner Frau das Kinoprogramm, denn in Berlin gibt es ganz viele Kinos, und gehe gern dorthin, schon als Kind liebte ich es. Im Tagesspiegel stand, dass es tatsächlich Geschichte war, das Problem ist nur, dass ihr zu blöd seid, um Zeitungen zu lesen. Ein historisches Ereignis, so hat es dringestanden. Wisst ihr, was das ist, ein historisches Ereignis? Ihr habt keine Ahnung, ihr zerbrecht euch die Köpfe nur über eure selbstgemachte Paprikawurst. Und über den gegrillten Lammbraten, über die Deutsche Mark und jetzt über den Euro. Über meine fünf Euro. Ein historisches Ereignis ist, wenn der Blitz einschlägt und keiner weiß, wen er trifft.
Jetzt hatten die Reisenden im Bus genug. Und ob sie wüssten, was ein historisches Ereignis ist! Geduldig erklärte die Frau aus der Woiwodina dem Mann mit dem runden Hut, er solle die einfachen Leute nicht unterschätzen, schließlich wüssten sie sehr wohl, was ein historisches Ereignis sei. Sie selbst wüsste es auch. Der Chef hat gesagt, sagte sie, dass auch die Einführung des Euro ein historisches Ereignis sei. Deshalb irre sich der Herr mit Hut, wenn er auf die gemeinsame Währung schimpft. Und der Chef hat auch gesagt, dass Europa ebenfalls ein historisches Ereignis sei. Er hat mich gelobt wegen der dreißig Jahre, die ich schon fleißig bei der Firma arbeiten würde weshalb ich die Aussicht auf ein großes Geschenk hätte. Er hat gefragt, ob ich zur Kirche ginge. Selbstverständlich gehe ich in die Kirche, jeden Sonntagvormittag, wenn ich nicht zur Arbeit muss, ich gehe in die evangelische Kirche. Der Chef hat genickt und gesagt, in Ordnung, er sei froh darüber, denn jeder Europäer gehe in die Kirche. Ein Europäer bete, sühne und erbitte Gnade. Ein echter Europäer würde immer sühnen, hat er gesagt. Wüsste ich denn, hat er gefragt, was Sühne sei. Und ob ich es wüsste, habe ich gesagt, Sühne ist, wenn mich mein Mann schlägt und ich hinterher heule. Der Chef hat gelacht und gesagt, in Ordnung, Sühne sei zwar nicht gerade das, aber so was Ähnliches. Nach der Messe kaufe ich immer Käsekuchen und bringe ihn meinem Mann mit, damit er es auch schön hat, denn er will nicht in die evangelische Kirche, weil er ortodox ist. Das sei vollkommen gleich, habe ich zu ihm gesagt, auch ich sei ortodox, aber es gebe nun mal nur einen Gott. Wichtig sei nur, dass wir beten, das Gebet für Frieden und für die Liebe. Ich würde für ihn beten und auch für Deutschland, damit nichts passiert und ich meine Rente bekomme und Aussicht auf schöne Geschenke habe. Dieses Bekenntnis verstimmte einige im Bus. Es sei nicht Ordnung, in die evangelische Kirche zu gehen, wenn sie doch ortodox sei. Auch der Mann mit dem runden Hut ließ es nicht dabei bewenden, er sagte, der Chef habe sich geirrt, mitnichten gehe jeder Europäer zur Kirche, er zum Beispiel würde den Fuß niemals in eine Kirche setzen, weder in eine evangelische noch in eine ortodoxe. In keine einzige, und trotzdem halte er sich für einen Europäer, sagte er.
Der Reiseleiter kündigte die baldige Ankunft an sowie den Kaffee, den nun jeder aus Freude auf Berlin bekäme. Und damit beim Aussteigen am Busbahnhof sich alle frisch fühlten. Des Weiteren hoffe er, sagte der Reiseleiter, dass sich während der Fahrt alle wohl gefühlt hätten und die Leistungen der Busfirma auch in Zukunft in Anspruch nehmen würden.
Er kam dann zu jedem einzelnen mit einem Tablett und reichte ihm den Kaffee. Möchten Sie Milch dazu? Ohne Zucker? Ich kann Ihnen auch Zuckerersatz geben. Der Bus ruckelte, aus der einen oder anderen Tasse schwappte ein wenig Kaffee, aber das störte niemanden, denn das Glück, endlich in Berlin angekommen zu sein, wischte alles andere beiseite.
So ist es, meine Damen und Herren, sagte der Reiseleiter ins Mikrofon, wir sind in wenigen Minuten da. Auch ich bin außerordentlich froh, einen ganzen Tag in Berlin verbringen zu können. Ich werde eine wenig schlafen, dann streife ich durch die Gegend, von Mal zu Mal hebe ich den Kopf und grübele darüber nach, in welcher Stadt ich eigentlich bin. In Amsterdam, Paris, Zürich, Oslo, Stockholm? Denn wenn ich durch die Straßen ziehe, bin ich mir dessen oft gar nicht sicher. Doch ich gehe weiter und habe keine Angst, mich zu verirren. Deshalb habe ich mir diesen Beruf ausgesucht, und, glauben Sie mir, meine Damen und Herren, es gibt nichts Schöneres, als Chauffeur, Reisebegleiter oder Schaffner zu sein. Man legt mal hier, mal dort seinen Kopf zur Ruhe. Schon in jungen Jahren habe ich davon geträumt, Reiseleiter auf Fernreisen zu werden. Und mein Traum ist wahr geworden, wenngleich ich anfangs nicht ins Ausland durfte, denn das war nur Parteimitgliedern vorbehalten. So trat ich dann der Partei bei. Wenn das die Bedingung ist, dann ist das die Bedingung, dachte ich. Nichts gibt es ohne Gegenleistung. In der Tat wurde ich wegen Europa zum Kommunisten. Sobald ich meinen Mitgliedsausweis in Händen hatte, wurde mir von der Direktion sofort erlaubt, die Strecke nach Wien zu fahren. Meine verehrten Damen und Herren, ich verrate Ihnen, ich kenne Wien wie meine eigene Westentasche. Und seitdem mache ich es unermüdlich weiter. Meine Frau fleht mich an, dem wilden Reisen ein Ende zu setzen und den Antrag zu stellen, mich auf die Reiseroute Kuršumlija-Niš zu versetzen, doch um nichts in der Welt würde ich diese Langstreckenrouten je für was anderes eintauschen. Was soll ich denn mit Kuršumlija-Niš? Schon immer wollte ich mich in Europa herumtreiben. Und solange ich es physisch kann, wird es so bleiben. Denn es kommt inzwischen öfter vor, dass ich unterwegs einnicke, ich habe dann Alpträume, in denen ich kaum die Bustreppe hinaufsteigen kann, um mich auf meinen Platz zu setzen. Zum Glück rüttelt mich dann der Bus aus dem Schlaf, ich gucke zum Fenster hinaus und stelle zufrieden fest, dass es Europa ist, wo ich bin. Ich lausche dem Brummen des Motors, beobachte den Fahrer und bin glücklich. Nur in der Heimat befällt mich wieder Traurigkeit. Zu Hause bedrückt mich der Gedanke, ich könnte von irgendeiner Krankheit erwischt werden und nicht mehr fahren. Manchmal habe ich Gliederschmerzen, meine Knie brennen, meine Wirbelsäule wird von stechenden Schmerzen gequält. Ich krieche aus dem Bett, spüre, dass ich wieder reisen möchte. Auch mein Sohn versteht die Situation nicht. Vergeblich versuche ich ihm beizubringen, dass auch unsere Enkelkinder Schaffner werden sollen. Er schüttelt nur den Kopf und sagt, dass sein Sohn auf alle Fälle Bankangestellter werden muss, die einzige Tätigkeit, bei der man reich werden könne. Nun ja, das ist das Problem, alle wollen nur reich werden, und nach Möglichkeiten ganz schnell. Nur das Geld zählt. Ich versuche, meinem Sohn zu erklären, dass es Dinge gibt, die wichtiger sind als Geld, wie zum Beispiel, dass man eine klare Idee hat. Meine klare Idee ist Europa. Schweig, sagt mein Sohn, für deine klaren Ideen bist du sogar der kommunistischen Partei beigetreten. Und jetzt stehst du voll Scham da. Das macht mich wiederum wütend. In meiner Wut wiederhole ich, was ich meiner Familie schon zigmal erklärt habe, dass ich allein wegen Europa Kommunist geworden bin. Mein Sohn wiehert, behauptet, noch nie im Leben einen solchen Unsinn gehört zu haben. Meine Frau mischt sich ein, winkt nur ab, sie sagt: Lasst ihn doch, er war immer schon ein bisschen spleenig. Als er zum Beispiel um meine Hand anhielt, wollte er mit mir zur Hochzeitsreise nach Tivat, wo er einmal als Schaffner herumgekommen war. Und ich habe protestiert, bist du verrückt geworden und willst das Geld am Meer verschwenden? Auch darüber lacht mein Sohn nur. Ich sage nichts. Sie würden mich sowieso nicht verstehen. Doch meine Damen und Herren, Sie, die Reisenden, verstehen bestimmt, was ich damit sagen will.
Aus dem Ungarischen von Lacy Kornitzer