Als der Krieg ausbrach, gab es viel zu tun. Zunächst galt es natürlich, die Ansage auf dem Anrufbeantworter zu löschen. „Es kam nämlich vor, dass jemand versehentlich deine Nummer gewählt und beim Hören der ungarischen Ansage Wert darauf gelegt hatte, dich zu belehren: ,Dies ist Serbien, fick deine Mutter.'“ Außerdem wichtig: Das Treppenhaus im Auge behalten, denn es ist gefährlicher als die Straße. Immerhin, das Klingelschild neben der Tür mit dem verräterischen ungarischen Namen ist schon abgeschraubt. Und keinesfalls den Rasen mähen, denn was werden die Nachbarn denken? Sieh an, werden sie sagen, Serbien führt Krieg gegen die Welt, aber dem Herrn ist nach Gartenarbeit zumute! Außerdem ist es wichtig, auf das Sprechen zu achten. Am besten gar nicht sprechen. Und wenn es sich nicht vermeiden lässt, nie vergessen: Kurze Sätze! Da fällt der Akzent nicht so auf. Ansonsten ist es am sichersten, hinter dem Fenster zu warten, bis alles vorbei ist.
László Végel, ein ungarischer Schriftsteller aus der zu Serbien gehörenden Provinz Vojvodina, erinnert sich in vierzehn tagebuchähnlichen Szenen an die Luftangriffe der Nato auf das Jugoslawien von Slobodan Milosevic im Jahr 1999. Er beschreibt diesen Krieg aus einer ungewöhnlichen Perspektive, denn obwohl es eigentlich „sein“ Land ist, gegen das Krieg geführt wird, ist es alles andere als sein Krieg – und auch immer weniger sein Land. Die Ungarn der Vojvodina, fast 300 000 sind es noch, stehen bei der serbischen Bevölkerungsmehrheit nämlich als Fünfte Kolonne des Westens unter Generalverdacht wie einst die Japaner Amerikas nach Pearl Harbor. Ist Ungarn nicht gerade Nato-Mitglied geworden? Steigen nicht auch von Ungarn aus Piloten der Allianz auf, um ihre Bomben über Serbien abzuwerfen? Und überhaupt: Waren die Ungarn nicht schon im Zweiten Weltkrieg auf der Seite Hitlers?
So durchleben die Ungarn der Vojvodina von März bis Juni 1999 einen Krieg im Kriege. Wem es in Serbien nicht gefalle, wer nicht bereit sei, für das Kosovo zu kämpfen, der solle doch die Sachen packen und in seine Heimat zurückkehren, drohen die serbischen Nachbarn. Doch welche Heimat kann Ungarn sein für einen, der wie Eltern und Großeltern in der Vojvodina geboren und aufgewachsen ist? Soll man etwa nach Budapest gehen, wo die Regierung eine „Minderheitenseifenoper“ inszenieren lässt, während die Alteingesessenen aus der Not der Flüchtlinge noch Kapital schlagen? Besser nicht. Also bleiben die Leute, aber mit ihnen bleibt die Angst. Was wird geschehen, wenn die Nato tatsächlich eine Bodenoffensive beginnt und Serbien von Ungarn aus angreift? Werden die ungarischen Vojvodiner, die mit all dem nichts zu tun haben wollen, deren Heimat doch eigentlich nördlich der Kampfzone liegt, dann zu Geiseln? Wird sie am Ende dasselbe Schicksal ereilen wie die Albaner im Kosovo?
In den ungarischen Häusern von Novi Sad, das bei den Ungarn Újvidék heißt, „blieben die Fenster dunkel mit sorgenvollen Menschen dahinter, die wochenlang gesenkten Hauptes durch die Straßen geschlichen waren, in der Hoffnung, auf diese Weise keinen Zorn auf sich zu ziehen. Anderen aus dem Weg gehen, sich von gefährlichen Plätzen davonstehlen, an die Mauer geschmiegt, humpelnd den in Tarnuniform gesteckten Jugendlichen und mit allen Wassern gewaschenen stoppelbärtigen Patrioten ausweichen.“
Doch Végel verharrt nicht im Milieu der Vojvodina-Ungarn, er beschreibt vor allem das Land, dessen verunsicherte Bürger sie sind. Es ist ein düsteres Bild von Serbien, die eine oder andere Zeile grenzt gar an Verbitterung, doch vieles ist grandios gelungen. Vegel beschreibt den Midlife-Radikalismus vormals demokratischer Intellektueller, die sich mit nationalistischen Thesen trotzig gegen das grausam herannahende Alter wappnen zu können glauben. Es sind jene Intellektuellen, die zwar das Schicksal der Serben des Amselfelds beklagen, das in einigen Gegenden des Kosovos tatsächlich schwer ist, die aber für die Roma in den an Indien erinnernden Slums unter den Belgrader Autobahnbrücken kein Wort des Mitleids übrig haben. Als „verhexte Schlafwandler“ tauchen sie auf, wenn sie, man kennt das, von bösen Politikern reden, welche das gute Volk verführt hätten: „In diesen Erklärungen war die Moral der Volksmärchen wirksam, die stets mit dem Zeigefinger auf die böse Stiefmutter deutete.“ Das gute Volk kommt aber nicht vor bei Végel, sondern all die mordsgefährlichen sogenannten einfachen Leute, Köche, Polizisten und Kellner, die im nacheifernden Wahn die Grenzen ethnisch reiner Staaten auf Servietten zeichnen, weil auch sie Geschichte machen wollen. Wenn die Geschichte den Fakten widerspricht, „dann umso schlimmer für die Fakten“. Selbst bei der Beobachtung einer in den Luftschutzkeller flüchtenden Mutter stellt Végel sich noch kühl die Frage, ob die Frau ihrem Kind später gestehen werde „dass sie zehn Jahre zuvor die rhythmisch brüllenden Massen begeistert begrüßt hatte? Oder wird sie nur bekennen, dass sie Hals über Kopf in den Schutzraum gerannt ist?“ Sie werde sich, vermutet er, wohl nur daran erinnern, wie sie ihr Kind im Treppenhaus an sich drückte, denn wenn man sich auch an die Ursachen des Krieges erinnere, sei es vorbei mit dem Nachweis der Unschuld.
Unterdessen wird in Novi Sad, der Hauptstadt der Vielvölkerprovinz, „das Anderssein ausgejätet“. Die albanischen Geldwechsler sind auf einmal nicht mehr da, denn auch der Schwarzmarkt unterliegt der ethnischen Säuberung. Végel fängt den Krieg in einigen starken Bildern und Sätzen ein, wenn er das Schimmern reifender Sauerkirschen im Schein der Raketen beschreibt oder die absurden Feiern des Regimes über den serbischen „Sieg“ gegen die Nato in aphoristischer Kürze auf den Punkt bringt: „Ein Wunder war geschehen, wie immer.“ Mitunter überwiegt aber die Larmoyanz, wenn Végel das Leid der Ungarn im Allgemeinen und das des Schriftstellers im Besonderen beschreibt. Manchmal folgen viele bunte und mitunter anstrengende Worte aufeinander, aber dennoch will und will sich kein Bild daraus ergeben. Hier und da kommt es auch zu einem leichten metaphorischen Auffahrunfall, bei dem man sich fragt, ob Autor oder Übersetzung Schuld daran trägt. Da ist die Nato zum Beispiel in den Krieg „hineingeschlittert wie der Frosch ins Abspülwasser“. Und klingt der Satz „Eine samtene Apathie vergoldete alles“ auf Ungarisch besser? Auch manch eine der historischen Einschätzungen des Autors verwundert. War das 20. Jahrhundert gegenüber den Serben wirklich „großzügig“? Ist es ein Merkmal des serbischen Nationalismus, dass er keine Niederlage kennt? Oder ist nicht doch das Gegenteil sein Kern, besteht der serbische Nationalismus nicht aus einer Aneinanderreihung von stolzen Niederlagen, die zu einem unseligen Rachemythos verschmolzen?
Für das plumpe Umschlagbild allerdings – es zeigt einen alten Mann mit Geige vor einem Schild, auf dem „Nato, 1939, 1999“ steht – kann der Autor nichts. Ein Buch soll sich schließlich verkaufen, und „Nato“ oder der insinuierte Zusammenhang von 1939 und 1999, mögen sich die Gestalter gedacht haben, damit hat man die Aufmerksamkeit sicher. Dass der Autor in dem so beworbenen Buch 244 Seiten lang just gegen solche Klischees angeschrieben hat, wird da geflissentlich ignoriert. Die Vojvodina hat bedeutende Autoren hervorgebracht, den in Subotica geborenen Danilo Kis etwa und Aleksandar Tisma natürlich. Der in Novi Sad lebende Végel, Jahrgang 1941, war im deutschen Sprachraum dagegen bisher fast unbekannt. Es ist gut und richtig, dass dies künftig wohl nicht mehr der Fall sein wird.
MICHAEL MARTENS
László Végel: „Exterritorium“. Szenen vom Ende des Jahrtausends. Aus dem Ungarischen übersetzt von Akos Doma. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2007. 192 S., geb., 18,80 [Euro].
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.06.2008