Vojvodina: Eigensinnige Provinz an der Donau
03.04.2013 | 14:54 | von Jutta Sommerbauer (Die Presse)
SERIEDie serbische Provinz Vojvodina verfügt über ein multikulturelles Erbe und ist der Wirtschaftsmotor des Landes – auch österreichische Investoren zieht die Region an. Die Beziehungen zum Rest des Landes waren nicht immer reibungslos. Ein Panorama der Donauregion in vier Porträts.
Die Topografie der Vojvodina täuscht. Flach liegt sie da, Felder, schnurgerade Straßen, kein Hügel weit und breit. Eine Landschaft, unspektakulär, um nicht zu sagen langweilig. Doch langweilig war es hier nie. Die Ebene hat Aktivität und Austausch begünstigt.
Die Vojvodina ist als Region in einem Vielvölkerreich entstanden; heute ist sie in den serbischen Nationalstaat eingegliedert. Ein Viertel seiner Größe füllt sie, knapp zwei Millionen Bürger bevölkern sie. Die „serbische Wojewodschaft“ wurde 1848 proklamiert, sie entstand aus dem Wunsch nach Selbstbestimmung. Im Gegensatz zu den serbischen Gebieten am rechten Donau-Ufer, das lange unter osmanischer Herrschaft war, war die nördliche Donauregion wirtschaftlich stark entwickelt.
Die multikulturellen Wurzeln liegen zwei Jahrhunderte weiter zurück: Die fruchtbare Ebene war, nachdem die Kriege im 17.Jahrhundert gegen die Osmanen den Landstrich menschenleer gelassen hatten, auf Kaiserin Maria Theresias Geheiß neu besiedelt worden – von Deutschen (den „Donauschwaben“) und anderen Völkern aus verschiedenen Winkeln des Kaiserreichs.
Das 20. Jahrhundert brachte erneut einen (freilich unfreiwilligen) Austausch der Bevölkerung: Massaker an Juden und Serben in der Nazi-Zeit, danach die Vertreibung der Deutschen und Ungarn. Montenegriner und Mazedonier zogen in ihre Häuser ein. Seit den 1990er-Jahren sind Kroaten und Ungarn ausgewandert, Serben aus anderen Teilrepubliken zugewandert. 1921 war ein Drittel der Vojvodina-Bevölkerung Serben, ein Viertel Ungarn, 22 Prozent Deutsche, acht Prozent Kroaten. Heute sind mehr als zwei Drittel der Bewohner Serben, gefolgt von 14 Prozent Ungarn, drei Prozent Kroaten.
Die Bevölkerung ist homogener geworden, die Rechte der Minderheiten bleiben geschützt. Sechs Amtssprachen (Serbisch, Ungarisch, Kroatisch, Slowakisch, Rumänisch, Ruthenisch) sind in Gebrauch, auch mediale Teilhabe ist den Minderheiten garantiert.
Der Schriftsteller László Végel, einer der vier nachfolgend Porträtierten, erinnert in einem Essay daran, dass die Hauptstadt der Vojvodina, Novi Sad, einst als multikulturelle Stadt gegründet wurde. Am Flusskilometer 1255 rief Maria Theresia 1748 eine „freie, königliche Stadt“ aus. Sie hieß in lateinischer Sprache Neoplanta, die Bewohner durften den Namen in ihre Sprachen übersetzen. So entstand Neusatz, Újvidék, Mlada Loza, Novi Sad.
Branislav Bugarski: Der „Fast Außenminister“
In Unterredungen lässt er sich als Außenminister der Vojvodina bezeichnen, offiziell darf er diesen Titel aber nicht tragen. Branislav Bugarski ist, so steht auf seiner Visitenkarte zu lesen, „Provinzsekretär des Provinzsekretariats für interregionale Zusammenarbeit und lokale Selbstverwaltung“. Also doch kein Außenminister? Man muss ein wenig in der jüngsten serbischen (und jugoslawischen) Geschichte kramen, um zu verstehen, warum der 37-Jährige, der frühmorgens ausgesprochen ausgeschlafen mit einem Packen Jausenbrote unterm Arm sein Büro betritt und sich einen Schwarztee servieren lässt, in Novi Sad sehr wohl ein Außenminister ist – und in Belgrad nur ein Sekretär.
In Jugoslawien hatte die Vojvodina eine umfangreiche Autonomie inne, bevor der damalige Präsident Slobodan Milošević diese 1989 – gemeinsam mit der des politisch viel volatileren Kosovo – kippte. Seit 2009 hat die Provinz zwar wieder eine Verfassung, die den Status der Region an der Donau wieder aufwertet; doch die Provinzregierung hat noch nicht ganz so viele Vollmachten, wie ihr lieb wäre: Sie darf etwa keine zwischenstaatlichen Verträge abschließen, nur regionale Abkommen.
Bugarski, der vor seinem Kabinettsposten Chef der Investitionsagentur war, möchte die Provinz auch über die Landesgrenzen hinaus bekannt machen: vor allem in EU-Ländern. Automobilzulieferer, Nahrungsmittelproduzenten und Agrarinvestoren hat man in den vergangenen Jahren schon gewonnen; jetzt stocken die Investitionen wegen der Krise. Natürlich, die Lage sei „nach wie vor schwierig“, aber die Vojvodina habe für Geschäftsleute auch viel zu bieten: Fachkräfte, motivierte Kommunen, konkurrenzfähige Bedingungen. „Man bekommt viel – und das zu einem vernünftigen Preis“, so Bugarski.
Es gehört schon beinahe zum guten Stil, dass Belgrad seiner – vergleichsweise wohlhabenden – Nordprovinz vorwirft, sezessionistische Bestrebungen zu verfolgen – eine Anschuldigung, die in Novi Sad stets eine Gegenfrage provoziert: Wieso sollten sich Serben von Serben abspalten?
In dem Streit geht es, wie so oft, eher um die finanzielle Seite der Selbstverwaltung. Mindestens sieben Prozent des nationalen Budgets fordern die Vojvodina-Politiker. „Bisher mussten wir immer mit Belgrad diskutieren, wie viel genau sieben Prozent sind“, sagt Bugarski. Novi Sad will eine eigene Entwicklungsbank, die Belgrad verwehrt. Dafür wurde eine offizielle Vertretung der Vojvodina in Brüssel nun doch genehmigt. Sie darf sich aber nur „Verbindungsbüro“ nennen. Ihr Namens-Schicksal erinnert an Herrn Bugarski, den Beinahe-Außenminister.
Alexander Samonig: Investor auf freiem Feld
Ein Flickenteppich aus Feldern irgendwo in der Donau-Ebene, linker Hand ein Dorf, rechts zieht die Autobahn einen Bogen. Alexander Samonig weiß genau, wo sein Flickenteppich aufhört, und der eines anderen beginnt. Seit acht Jahren sammelt der Österreicher nun schon kleine Äcker nahe der Ortschaft Feketić, eine Stunde Fahrzeit von Novi Sad. Auf seinem mittlerweile17 Hektargroßen Areal entsteht der Agro-Business-Park „Small Steps“. Zwei Firmen – eine Mühle und ein Keksproduzent – sind bereits eingezogen, ein bis zwei neue Projekte pro Jahr sollen folgen. „Hoffnung in die Region bringen“, nennt das der 41-Jährige mit dem wohlgenährten Bauch („Schuld daran ist die serbische Küche“).
Der erzählfreudige, gelernte Steuerberater ist vor mehr als einem Jahrzehnt nach Serbien gekommen, die Visitenkarten seiner diversen Firmengründungen scheinen nie zu versiegen: da eine Übersetzungsagentur, dort eine Consultingfirma, gläserne „SEE Offices“ in Belgrad, Anlageberatung. Im Jargon der Unternehmensgründer nennt sich dieses Angebot „Komplettpaket“. „Samonig lässt Sie nicht im Stich“, sagt Samonig über sich. Dieser Mann speist sich aus einer unsichtbaren Energiequelle, die nie zu versiegen scheint. „Man kann schwimmen oder untergehen – ich bin eher der Schwimmer“, sagt Samonig, als er mit seinem Auto die Europa-Straße zum Businesspark entlangfährt. Der Name war seine Idee, natürlich.
Mehrere österreichische Agrarinvestoren haben die Vojvodina entdeckt. Die Vorteile: moderate Grundstückspreise, Bewässerungskanäle mit Donauwasser, gute Verkehrsanbindung an Westeuropas Märkte. Und: das „attraktive Lohnniveau“. „Es ist ein Geben und ein Nehmen“, sagt Samonig. Feketić war früher ein von Deutschen und Ungarn geprägtes Dorf, drei verschiedene Kirchen gibt es hier heute noch, die Synagoge steht nicht mehr. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 40Prozent. Samonig sagt, er bewundere die „stolze Armut“ der Region; und die Aufrichtigkeit ihrer Bewohner, dazu zu stehen, dass sie nicht viel in den Händen haben.
Tatjana Guzijan: Live aus dem rumänischen Dorf
Rumänisch, Serbisch, Englisch. In Tatjana Mohan Guzijans Zuhause werden viele Sprachen gesprochen. „This is a mess“, sagt die Blondhaarige mit dem gewinnenden Lachen im Gesicht, wenn wieder einmal alle gleichzeitig reden und noch dazu das Telefon läutet. Ein Durcheinander vielleicht – aber nichts Beunruhigendes. Tatjana Mohan Guzijans Geschichte erzählt von einer multikulturellen Vojvodina, einem kleinen Ausschnitt daraus: Sie ist in einem rumänischen Dorf im Banat geboren, ihr Ehemann ist Serbe, der dreijährige Sohn lernt im Privatkindergarten Englisch. 1999, es war kurz nach der Nato-Bombardierung Serbiens, schickten ihre Eltern sie zum Studium nach Rumänien. Als Mohan Guzijan 2004 wiederkam, habe sie an der Grenze „den Boden geküsst, so glücklich war ich, zurück zu sein“, erzählt sie lachend.
Heute ist Mohan Guzijan 32 Jahre alt und leitet die rumänische Redaktion im Vojvodina-Regionalfernsehen: Die Minderheiten der Vojvodina haben einen eigenen staatlichen TV-Kanal. Sie wacht über eine Handvoll Mitarbeiter, doch Reportagen über das Leben in den rumänischen Dörfern dreht sie am liebsten selbst. „Ich möchte unsere kulturellen Traditionen bekannt machen“, sagt sie. Sie, die nicht allzu gern kocht, und manchmal abends mit Freundinnen auch in Clubs geht? Ja! Es ist die Leidenschaft für ihren Beruf, die sie antreibt.
Im dritten Stock des ergrauten TV-Gebäudes dann die potenzierte Sprachverwirrung: Neun Minderheitenredaktionen haben hier ihren Sitz, da werken hinter dunklen Holztüren Ungarn, Slowaken, Mazedonier und Ruthenen, die gerade einmal 14.000 Angehörige in der Vojvodina haben. Die Kluft zwischen den Ethnien habe sich in den letzten Jahren verbreitert, flüstert ein Kollege, viele Junge sähen in den Minderheiten einen Feind. Für Tatjana Mohan Guzijan, diese apolitische, energische Kämpferin, ist so eine Haltung lebensfremd. Sie, die aus dem Banater Dorf nach Novi Sad kam, ist in einer toleranten Umgebung aufgewachsen.
László Végel: Chronist der verschwundenen Stadt
Wenn Lászlo Végel durch die Innenstadt von Novi Sad spaziert, sieht er Dinge, die vielen anderen für immer verborgen bleiben. Das „Café Dornstädter“ etwa, mit seinem deutschen Besitzer. Es befindet sich linker Hand der Kathedrale, auf dem großen Freiheitsplatz. Dornstädter? Heute ist dort ein Kaffeehaus „Athen“, bemüht dekadentes Ambiente, laute Musikuntermalung. Végel bevorzugt ruhige Lokale.
Der 72-jährige Schriftsteller ist ein Chronist des untergegangenen Novi Sad, und er hat dem Café einen Essay in seinem Buch „Sühne“ gewidmet. Es ist eine Welt, die in seiner Jugend in Titos Jugoslawien schon Geschichte war. Doch Végel spürte ihre Nachwehen, suchte später in Triest, beim Kleiderkauf (Jeans!), die Nähe des Verlorenen, das manche Mitteleuropa nennen, andere k.u.k. Erbe, eine multikulturelle, bürgerliche, urbane und vernichtete Kultur. Das „Café Dornstädter“ wurde nach dem Krieg in „Café Moskau“ umbenannt; als sich Tito von der Sowjetunion abwandte, hieß es „Zagreb“. Dann zerfiel Jugoslawien, und die andere Teilrepublik wurde Kriegsgegner. Es wurde zu „Athen“ – „auf dass der Name dank der orthodoxen Christenheit für immer bleibe“, so Végel sarkastisch. Végels Werke (er schreibt in seiner Muttersprache Ungarisch) sind erst in den letzten Jahren auf Deutsch erschienen, etwa der Roman „Bekenntnisse eines Zuhälters“. Er nennt sich einen „heimatlosen Lokalpatrioten“.
Von den Auslandsreisen kehrte er immer wieder zurück, trotz der Kriege, trotz der Nato-Bomben, trotz ungarischen Passes. Ungarn sei zwar das „Heimatland seiner Muttersprache“, doch er bleibe dort ein „bekannter Fremder“. Schuld daran sei Jugoslawien.
Végel beschäftigt sich in seinen Schriften auch mit der Vertreibung der Deutschen und Ungarn, die nach dem Zweiten Weltkrieg kollektiv der Kollaboration mit Hitler bezichtigt wurden. In seiner Jugend durfte man über diese Schicksale kein Wort verlieren. Die Deutschen waren Faschisten, fertig. Er habe als Heranwachsender „zum Trotz“ Deutsch gelernt, sagt Végel.
Die Deutschen sind schon lang weg, viele Ungarn ebenso, die Multikulturalität der Region geht langsam verloren. Zuletzt haben die Kriege der Neunziger Novi Sad verändert. Flüchtlinge aus anderen Teilrepubliken sind in Scharen gekommen, viele verbittert, mit Kriegserfahrungen im Gepäck. Dass in Novi Sad einst ein „Café Dornstädter“ existierte, wissen sie nicht.
(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 31.03.2013)