Chronik der Enttäuschung
László Végels Roman ist ein Porträt der Generation von 1968 in Titos Jugoslawien. Anders aber als im Westen dominiert hier nur der Frust.
Jungsein heißt auch immer Verwirrtsein. Die Suche danach, wer man sein will und wo das Leben hingehen soll – das sind entscheidende Fragen, die über Zeit und Raum, von Generation zu Generation die gleichen bleiben. Durch die Malaise der Pubertät muss jeder durch, ob nun im alten Rom oder in der modernen Großstadt. Bloß die Fluchtwege variieren: Der Drink in der Kneipe, die Zigarette am Fluss, das Flanieren im Park – so lauten die verträumten Formeln des Aufschubs heute, um den Einbruch des Erwachsenen-Daseins ins Unendliche zu verschieben.
Wenn man László Végels Roman „Bekenntnisse eines Zuhälters“ in die Hand nimmt, überrascht es trotzdem, dass so viele Parallelen existieren zwischen dem Berliner Mittzwanziger von 2012 und dem desorientierten Jugendlichen aus der Tito-Ära, dem adoleszenten Flaneur aus dem kommunistischen Jugoslawien von 1968. Auch hier ist das Vagabundieren die eskapistische Strategie des Unentschlossenen; auch hier ist die alles verschluckende, nicht näher präzisierte Großstadt der verträumte, vernebelte Ort des Rausches, der sich (wie Berlin) schnell zur verrotteten, korrumpierten Enttäuschung pervertiert. Deshalb lässt sich der jugendliche Protagonist namens Blue gar nicht erst auf Idealisierungen ein. Er ist ein abgebrühter Fall: „Das, dachte ich, ist der Ort, an dem ich verrückt werden würde, doch wo war es besser? War es nicht überall auf der Welt so?“
„Bekenntnisse eines Zuhälters“ ist die kühle Chronik einer Enttäuschung. Als Überschriften dienen Wochentage, ohne dass sofort erkennbar wäre, wo und in welche Zeit wir hineingeworfen sind. László Végel weiß, was er tut: 1941 in der Wojwodina geboren, kennt er sich als Mitglied der ungarischen Minderheit mit Ungereimtheiten aus. Sein Roman, der in den sechziger Jahren spielt und in dieser Zeit auch geschrieben wurde, pendelt zwischen unpräzisen Orts- und Zeitangaben, um dem Generationenporträt eine universale Note zu verleihen. Der Leser ahnt lediglich, dass er es mit Jugendlichen der Achtundsechziger-Generation zu tun hat, die völlig anderen Bedingungen unterworfen sind als ihre Altersgenossen im kapitalistischen Westen.
Erst nach und nach erfahren wir mehr: über den Studenten und Streuner Blue, der als Handlanger für einen Ingenieur arbeitet, der junge Mädchen verführt und sie nach dem Geschlechtsakt erpresst. Blue ist für das Fotografieren zuständig, er sammelt das Beweismaterial, um die Mädchen unter Druck zu setzen und zu weiteren Diensten zu zwingen. Er tut es, weil er Geld dafür bekommt, ein paar müde Scheine, mit denen er sein rast- und hoffnungsloses Leben finanziert – ohne schlechtes Gewissen: „Du verkaufst deine Seele. Na und? Wer tut das nicht. Zeig mir einen, der seine Seele und seinen Körper nicht zu Markte trägt, sagte ich. Machen wir uns keine Illusionen.“
Trostlos muss man diese Existenz nennen. Und gerade deshalb spiegelt dieses Leben ex negativo so viel Wahrheit, Traurigkeit und zeitlose Leere, die mit Momenten falschen Glücks ausgetrieben wird – mit schnellem Sex, Alkohol und Geld. Der Text liest sich wie eine ortsversetzte Version des „Fängers im Roggen“, wie eine kulturell anders timbrierte und doch hochaktuelle Sinnsuche von erstaunlich verbitterter Kraft. Wir erleben die Desorientierung eines jungen Menschen, der von seiner Umgebung so frustriert und in seinem Wesen so abgebrüht ist, dass ihn nur noch flüchtig Zerstreuungen am Leben halten. Leere wird hier mit Leere beschrieben.
Doch was tun? Revolution spielen? Wie die Achtundsechziger im Westen auf die Barrikaden gehen und die verrottete Gesellschaft aus den Fugen werfen? Auch diese Perspektive wird madig gemacht: Stillhalten, sich raushalten – das ist die Lösung, die Csisi, die Ex-Freundin von Blue, in einem mahnenden Brief einfordert: „Wir müssen die großen Dinge vergessen, wir sollten einsehen, dass wir nicht in Zeiten leben, wo wir uns großen Luxus leisten können. Man muss sich außerhalb stellen und aufhören, im Mist herumzuwühlen. Wir sollten abwarten, gut möglich, dass eines Tages bessere Zeiten kommen..“
Der Langzeitstudent Blue ist kein Idealist, er ist ein Jugendlicher, der es sich gut machen möchte, der sich einrichten will. Für ihn sind die Verheißungen des Westens weit entfernte, unergründliche Traumvorstellungen. Als sein Freund Pud die Worte „Egalité, Sexualité, Liberté“ an die Toilettenwand kritzelt, weiß Blue nur mit abgeklärten Phrasen zu antworten: „Pud ist wirklich naiv. Er scheint nicht zu wissen, dass diese Worte in der Welt, in der wir leben, keine Bedeutung haben. Und wenn jemand nur ein bisschen Grips hat, zerbricht er sich über wichtigere Dinge den Kopf. Vor allem über Geld. Geld ist elementar. Das ist die Wahrheit.“
Man könnte den Eindruck bekommen, dass dieser Roman in seiner Perspektivlosigkeit fatalistisch ist. Doch das ist nicht richtig: Zum Ende hin werden die hedonistischen Zerstreuungen als Schimären enttarnt, die vor Augen führen, dass bloßes Raushalten keine Lösung ist. Ob Alternativen aber gesellschaftlicher Natur sind oder im Privaten gefunden werden müssen, lässt das Buch offen. Trotzdem versteht man nach der Lektüre, warum Peter Esterházy diesen Klassiker der modernen ungarischen Literatur mit der Formel feierte: „Ein schönes Buch, es atmet Freiheit.“ Diese Freiheit fehlt den Jugendlichen. Wie man sie jedoch findet, das weiß nur der, der schließlich erwachsen wird.
TOMASZ KURIANOWICZ
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.02.2012
László Végel: „Bekenntnisse eines Zuhälters“. Roman.
Aus dem Ungarischen von Lacy Kornitzer. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2011. 251 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aus dem Ungarischen von Lacy Kornitzer. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2011. 251 S., geb., 19,90 [Euro].
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Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.02.2012.