15. September 2007, Neue Zürcher Zeitung
Vom Nutzen und Nachteil der Globalisierung für das literarische Leben Schreiben im Niemandsland Vom Nutzen und Nachteil der Globalisierung für das literarische Leben Der Autor, der mit dem Kulturraum seine Sprache wechselt, ist in den Zeiten der Globalisierung zu einem verbreiteten Phänomen geworden. Literatur wird durch die Bewegungen der Migration entterritorialisiert und die Sprache entnationalisiert, was einer postnationalen Literatur zum Durchbruch verhelfen könnte. Schwer haben dürften es die Literaturen der Minderheiten, die nicht so leicht Anschluss finden an die Postmoderne. … Der Autor, der mit dem Kulturraum seine Sprache wechselt, ist in den Zeiten der Globalisierung zu einem verbreiteten Phänomen geworden. Literatur wird durch die Bewegungen der Migration entterritorialisiert und die Sprache entnationalisiert, was einer postnationalen Literatur zum Durchbruch verhelfen könnte. Schwer haben dürften es die Literaturen der Minderheiten, die nicht so leicht Anschluss finden an die Postmoderne.
Von László Végel
Ein heimatloser Schriftsteller, den es in die Fremde verschlagen hat, ein Flüchtling oder ein neugieriger Wandervogel. Alterslos oder genauso alt wie die europäischen Nationalliteraturen, die durch ihn ein neues Mass an Selbsterkenntnis gewonnen haben. Dieser Schriftsteller hatte dennoch eine Heimat gehabt – seine Muttersprache. Daran erkannte man seine Fremdheit.
Doch mit der Zeit vervollständigte sich sein Fremdsein. Es tauchten jene vertrauten Fremden auf, die nicht nur das Territorium, sondern auch die Sprache gewechselt hatten. In den vergangenen Jahrhunderten noch eine Seltenheit, wird der Typ Schriftsteller, der seine Sprache gewechselt hat und seine Identität nicht schreibt, im 20. Jahrhundert ein immer häufigeres Phänomen.
Der von der Peripherie ins Zentrum eindringende Schriftsteller, um es mit Wolf Lepenies‘ Definition auszudrücken, findet sich vor allem in Westeuropa, wo das «Monarchie-Syndrom» aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg Fuss gefasst hat. Im Gegensatz zu den Folgestaaten zeichnete sich Wien, die Hauptstadt des Imperiums, durch eine hochgradige kulturelle Sensibilität gegenüber seinen Randgebieten aus. Wie Kulturhistoriker bestätigen, kamen die Impulse der Modernität von der Peripherie nach Wien, denn Wien konnte sowohl ausstrahlen als auch aufnehmen.
MITTELEUROPÄISCHE WANDERER
Es stellt sich also die Frage, was aus dem österreichischen Modernismus geworden wäre ohne Canetti, der das innere Identitätschaos aufgedeckt hat, ohne den aus Prag stammenden Werfel oder den die galizische Welt repräsentierenden Roth, ohne den mitteleuropäischen Wanderer Robert Musil. Um von Ödön von Horváth gar nicht zu reden. Fiume, Belgrad, Budapest, München, wo er zwölfjährig Deutsch lernte und ein österreichischer Schriftsteller wurde.
Dasselbe geschieht heute in der westlichen Welt. Im literarischen Leben der grossen Sprachen finden immer häufiger bedeutende Schöpfungen die ihnen gebührende Anerkennung, deren Verfasser ihr Heimatland aus welchen Gründen auch immer verlassen haben, zu «vertrauten Fremden» wurden und in ihrer neuen Muttersprache eine neue Heimat fanden, in der sie jedoch auch ihre ursprüngliche Identität bewahrt haben; sie hatten also «nur» die Sprache, nicht jedoch die Identität gewechselt. Sie hatten, um ganz genau zu sein, ihre Identität verdoppelt.
Der Blickwinkel, die Perspektive ihrer Werke ist identisch mit dem Blickwinkel der neuen Muttersprache, sie handeln von fremden Welten, aber so wie «wir» sie wahrnehmen, denn die Macht der neuen Muttersprache wirkt sich auch auf die anderen Welten bestimmend aus. Manche sehen darin unter dem Eindruck von Edward Saids These eine Literatur, die infolge globalisierender Trends stark mit den Traditionen des neokolonialen Diskurses durchtränkt ist, schliesslich handele es sich um dasselbe Paradigma wie bei Joseph Conrad. Ihre Annahme entbehrt nicht einer gewissen Wahrheit, aber nur wenn sie alle Alternativen eliminiert. Nach Ansicht anderer hat diese kulturelle Kreolisierung nichts mit dem neokolonialistischen Diskurs zu tun, im Gegenteil, infolge einer solchen neue Schaffenskraft freisetzenden Hybridisierung würde die Literatur entterritorialisiert, die Sprache entnationalisiert, was letztlich der postnationalen Literatur zum Durchbruch verhülfe.
KREOLISIERUNG
Vor diesem Hintergrund fällt jedoch auf, dass diese Art Kreolisierung im östlichen Mitteleuropa und in Südosteuropa, wo die ethnische Vermischung eine grosse Tradition hat, einfach keine tieferen Spuren hinterlassen hat. Der Wechsel der Sprache geht gewöhnlich mit einem Wechsel der Identität, mit völliger Assimilation einher, so dass für eine solche «Kreolisierung» kein Platz bleibt, zumal die nationalen Literaturkanons im Osten viel stärker ausgeprägt sind als im Westen. Gerät der osteuropäische Schriftsteller, der nationale Repräsentant, in Streit mit der nationalen Werteordnung, wird selbst die postmoderne Literatur in einen vormodernen, nationalen Rahmen gezwängt. Folglich hat der vertraute Fremde in diesen Literaturen weder einen Platz, noch spielt er eine Rolle in ihnen. Das führt umso mehr zu einer seltsamen Situation, als jene Gürtel, in denen die vertrauten Fremden leben, immer gegenwärtiger werden, wie das auch die demografische Karte Europas bezeugt. Die «vertrauten Fremden» des Niemandslandes, der multikulturellen Räume nennt man nationale Minderheiten. – Die obige, politische Bestimmung ist zu einengend, schliesslich geht es in kultureller Hinsicht um mehr. Heutzutage gleichen europäische Megalopolen wie London, Berlin oder Paris den einstigen, leider zunehmend zum Verschwinden verurteilten multikulturellen Regionen Europas, etwa der Wojwodina in Serbien oder manchen Teilen Schlesiens. Es wird immer offensichtlicher, dass die Länder des östlichen Mitteleuropa mit ihrer Peripherie nichts anfangen können. Dieses Dilemma macht sich sowohl aus dem Blickwinkel der Kulturnation als auch aus der Perspektive der politischen Nation betrachtet bemerkbar. Die Perspektive der Kulturnation kann das Anderssein nicht deuten, begreift das vertraute Fremde nicht, weil sie nur das Identische, nicht das Fremde darin wahrnehmen will. Eine Annäherung von der Warte der politischen Nation hingegen sieht darin nur das verdächtige Anderssein.
Im Gegensatz zur osteuropäischen Angst kommt im heutigen Europa-Diskurs immer stärker die Vorstellung zum Ausdruck, dass die fundamentale Sprache der europäischen Kultur die Übersetzung ist; mit anderen Worten, diese Kultur erschliesst sich heute in pausenlosen Übersetzungsprozessen, erst dadurch werden aus Fremden vertraute Fremde. Es handelt sich nicht um eine Praxis der Übersetzung in einem rein technischen Sinn, sondern auch darum, dass der Europäer im dichten Netz der Informationen in einen grenzenlosen, virtuellen Raum gelangt und auf ständige Übersetzung angewiesen ist, selbst wenn es darum geht, seine eigene Welt zu verstehen. Eben das ist charakteristisch für die nationalen Minderheiten Europas: die permanente Übersetzung als der natürliche, existenzielle Zustand ihrer zwischensprachlichen Situation. Der vertraute Fremde ist also daran zu erkennen, dass er in einer doppelten Welt lebt. Einerseits in der Welt seiner Muttersprache, andererseits in der Welt seiner Umgebung sowie in einer weiteren, aber nicht fremden Sprache, die sie umgibt.
Zwei Diskurswelten
Jedes Ding, jedes Phänomen hat mindestens zwei Namen, und beide sind nicht fremd. Die nationalen Minderheiten leben in zwei Diskurswelten. Mit Derrida können wir sagen, dass keine von beiden ganz die ihre ist. Denn während die Sprache sie mit der Kultur ihrer Muttersprache verbindet, entfernt sie die Wirklichkeit, auf die die Sprache verweist, von derselben. Dasselbe wiederholt sich in ihrer Umgebung, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Ihre Lebens- und Bewusstseinswelt verbindet sie mit jener Welt, von der sie ihre Sprache entfernt. In diesem ständigen Konflikt zwischen Sprache und Welt, Signifikant und Signifikat entsteht die Minderheitenliteratur. Die Situation ist kafkaesk im sprichwörtlichen Sinn: Denn Kafka war jüdisch unter den Deutschen, deutsch unter den Tschechen und, da er in der Welt Prags beheimatet war, ein Prager Tscheche in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie.
Deleuze und Guattari haben darauf hingewiesen, dass Kafkas Deutsch eine Minderheitensprache ist, eine Inselsprache; mit anderen Worten ein zwischensprachlicher Zustand, der auch seine literarische Ausdrucksweise bestimmt hat. Ein zwischensprachlicher Zustand, der durch sein Judentum existenziell vertieft wurde. Deleuze und Guattari haben Kafka also zu Recht als den Minderheitenschriftsteller par excellence bezeichnet, da dieses Bewusstsein nicht nur in seiner Erlebniswelt, sondern – viel wichtiger – auch in der Sprache seiner Romanwelt, der kargen Sprache, die nicht deshalb karg ist, weil sie ärmlich, sondern weil sie reich ist, zum Ausdruck kommt. Reich deshalb, weil sie die Spuren mehrerer Sprachwelten in sich trägt. Dasselbe ist auch für die in einen nationalen Rahmen nur schwer einzuordnende, einzufügende Literatur des «Niemandslandes» charakteristisch.
Heutzutage finden Minderheiten nur in einem politischen Zusammenhang Erwähnung, nicht jedoch als postmodernes Kulturphänomen. In einem kulturellen Sinn kennt das heutige Europa die Bewohner des Niemandslandes im Grunde genommen nicht. Das kulturell vielfarbige, mosaikartige Europa steht ständig in einem solchen Kontext auf der Tagesordnung, als bestünde es aus voneinander klar trennbaren Mosaiksteinchen. Als Ganzes ist das lebendige Bild abwechslungsreich und überaus bunt, die einzelnen Mosaiksteinchen hingegen sind einfarbig. Und so stellt sich das Dilemma: Haben die einzelnen Steinchen Farbnuancen, wo ist die verbindende Klammer, was verknüpft die vielfarbigen Quadratgitter miteinander? Folglich vergass Europa seine postmodernen Stiefkinder. Aus dem Randgebiet