Berliner Zeitung, 29.09.2011
Die Nouvelle Vague vom Balkan
Swinging Vojvodina: Lßszló Végels Zuhälterroman
Mathias Schnitzler
Das Geheimnis des Glücks? Gibt es nicht in Ratgebern, nicht beim Psychologen und auch nicht von der ganzheitlichen Hebamme. Man kann es in Romanen finden. Konkret in Lßszló Végels „Bekenntnissen eines Zuhälters“. Das Glück, scheint hier ganz einfach, man muss nur erst einmal darauf kommen. So wie Csiksi, das bezaubernd nuttige Novi Sader Mädchen, das am Ende mit unserem Helden davonfährt. Ohne Ziel, wie man es aus alten Filmen kennt. Zuvor aber verrät sie Blue und uns das Geheimnis.
Dieses Buch, geschrieben in ungarischer Sprache im Jahr 1967, erschienen ein Jahr später in Jugoslawien und Ungarn, atme Freiheit, hat der große Péter Esterhßzy gesagt. Zur Freiheit aber gehört Bewegung, und Bewegung ist das Hauptmotiv des Romans: Swinging Vojvodina! Blue, Student in Novi Sad, der Hauptstadt der serbischen Vielvölkerprovinz, streunt umher wie ein junger Hund, rastlos und ratlos. „Ich liebe dich, weil ich mich langweile“, sagt er zu einem Mädchen. Und: „Ich habe nicht die Geduld, sehnsüchtig auf irgendetwas zu warten. Aber auch zu nichts anderem.“
Er sucht, irrt, läuft, rennt, tanzt, hetzt, hechelt und flüchtet, außer Atem wie ein Getriebener. Blue macht kriminelle Dinge und treibt sich in dubiosen Klubs rum. Existenzphilosophische Diskurse führt er und will die Frauen lieben wie einst Belmondo bei Godard. Für die ungarische und die serbische Literatur war Végels Debütroman die Nouvelle Vague.
Angesichts der Freude, dieses Werk nach über vierzig Jahren endlich in unserer Sprache zu lesen, kann man den etwas reißerischen deutschen Titel verschmerzen. Und seien wir ehrlich, würden Sie das Buch eines ungarischen Serben kaufen, das wie im Original „Die großen Erinnerungsschriften“ heißt? Zusammen mit den folgenden Romanen „Überblicke“ (1984) und „Eckharts Ring“ (1989) gilt die Novi-Sad-Trilogie als Végels Hauptwerk. Novi Sad und die Vojvodina sind sein großes Thema bis heute.
„Die vojvodinische Identität“, sagt Végel, in dessen Heimat neben Serben und Ungarn auch Slowaken, Kroaten, Rumänen, Bulgaren, Roma und Deutsche als anerkannte Minderheiten leben, „diese Identität muss ein Spiegel der Vielfalt sein.“ Außenseiter und melancholische Rebellen auf der Suche sind seine Figuren, fremd in der eigenen Heimat sprechen sie eine Sprache, die nicht immer verstanden wird. Deshalb müssen Grenzen überschritten, Bedeutungen relativiert, Ordnungen gebrochen werden.
Ein schöner Spruch Végels kommt einem in den Sinn: „Die Übersetzung ist die wichtigste Sprache in Europa.“. Vergleicht man diese europäische, kulturelle Perspektive mit den national-materiellen Vorbehalten, die in den wohlhabenden Ländern der EU gehegt werden, darf man sich durchaus schämen. Scham empfindet übrigens auch Blue, der wegen chronischen Geldmangels einen miesen Job annimmt. Für einen Ingenieur, der mit jungen Frauen schläft, schießt er heimlich Fotos, um die Mädchen später zu erpressen.
Trotz seines Unbehagens realisiert Blue erst spät, was er da eigentlich macht. Ist er Opfer oder Täter, Tagträumer, Rebell oder Profiteur? „Wer aus der Reihe tanzt, ist selber schuld. Sich nicht harmonisch einfügen? In die verhältnismäßig beste aller Welten?“ Das ist hier die Frage. Eine Frage, die sich die Jugoslawen, wenn überhaupt, Jahrzehnte später stellen werden. Ihre Freiheit, so sagt heute mancher, hätten sie für Auslandsreisen und italienische Schuhe verkauft. Und Csiksi? Csiksi glaubt: Man ist glücklich, wenn man es will.
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Lßszló Végel: Bekenntnisse eines Zuhälters. Aus dem Ungarischen von Lacy Kornitzer. Matthes & Seitz, Berlin 2011. 252 S., 19,90 Euro