Welt ohne Sehnsucht
20. Juli 2011, Neue Zürcher ZeitungWelt ohne Sehnsucht«Bekenntnisse eines Zuhälters» – László Végels grossartiges Romandebüt aus dem Jahr1968Sex und Geld, Lügeund Verrat – eineJugend in dernordjugoslawischenProvinz.(Bild: Keystone/AP)Jörg Plath · Durch die Stadt laufen, Mädchen aufreissen und nach einiger Zeit weiterreichen, Geldfür den Klub und die Restaurants besorgen – Blue und seine Freunde amüsieren sich imnordjugoslawischen Novi Sad nach Kräften. So lässt sich das langweilige Leben immerhin aushalten.Mit dem Thema, über das Blue bei Professor Sik an der Universität eine Arbeit schreiben soll, kanner daher überhaupt nichts anfangen: «Die Kunst ist lang, das Leben ist kurz.» Wäre es nichtsinnvoller, den Satz umzudrehen? Das Leben ist lang, man vermodert ja geradezu. «Mein einzigerTrost war, dass die Zeit verging. Ein paar Jahre überspringen, das wäre eine gute Lösung.»Blue richtet sich nach seinem Talisman, den er für eine asiatische Darstellung des guten Menschenhält: drei Affen, die nicht sehen, nicht hören, nicht sprechen. Alles andere, weiss Blue, istvergebliche Liebesmüh. Jeder ist allein und hat vom anderen nichts zu erwarten ausser momentanerAblenkung durch körperliche Schönheit und Sex. Als eine von Blues Freundinnen klagt, sie fühlesich schrecklich leer, sucht er peinlich berührt das Weite.Geballte LadungCoolness ist ein zu schwaches Wort für diese Haltung, und auch der schwarze Rollkragenpulloverder Existenzialisten wird von Blue, Hem, Merkurosz, Pud, Csicsi, Tanja und Bea nicht getragen. Unddoch erweisen sich die Studenten und Abiturienten im jugoslawischen Sozialismuserstaunlicherweise als Zeitgenossen der tonangebenden westeuropäischen Spätmoderne.«Bekenntnisse eines Zuhälters», im Original 1968 auf Ungarisch in der nordjugoslawischenVojvodina erschienen, von niemand Geringerem als Aleksandar Tišma ins Serbische übertragen undnun erstmals auf Deutsch zugänglich, zeigt, wie selbstverständlich Geistesströmungen den EisernenVorhang durchdrangen. Heutige Romane wirken angesichts der geballten Ladung Nihilismus,Depression und Weltekel im Vergleich wie Kuschelliteratur.Der Verfasser László Végel, 1941 geboren, war Dramatiker beim Fernsehen der ungarischenMinderheit in Novi Sad und Angestellter der Soros-Stiftung, die nach dem Fall der Mauerdemokratische Bewegungen in Osteuropa unterstützte. Végels Romane sind bis heute nichtübersetzt, jedoch Erzählungen und Essays – und die Aufzeichnungen «Exterritorium» (2007), indenen er den nationalistischen Irrsinn in Serbien während des Nato-Bombardements 1999 bitterschildert und wie dieser ihn der Heimat beraubt. Plötzlich gilt er als Ungar.Beängstigend, dass schon László Végels Debüt die Gesellschaft vom Rand her schildert. Die libertine,der Arbeit und allem Nützlichen abholde Jugend der «Bekenntnisse eines Zuhälters» erscheint denErwachsenen abscheulich degeneriert. Sie verachtet die Gesellschaft, wird aber durch Geldmangelgezwungen, sich oder andere zu verkaufen, weshalb die Verachtung auch sie selbst trifft. Blue führtseine Freundin Csicsi dem geilen Schuldirektor zu, um mit Tanja ausgehen zu können. Dannverdient er sein Geld als Kuppler und Erpresser: Im Auftrag eines Ingenieurs fotografiert er dieFrauen, mit denen jener schläft. Mit den kompromittierenden Aufnahmen erpresst der Mann dieFrauen zu erneutem Beischlaf.Moralische Erwägungen hegt niemand. Wem der Sex Freude bereitet, schweigt besser drüber, damitdas Vergnügen seinen Handelswert nicht verliert: Niemand gibt sich eine Blösse und aus der Hand.Wo jedes Miteinander als Lüge und Verrat erlebt wird, dient Härte als Selbstschutz.Verzweiflung und AmüsementDie enge, bäuerliche Welt ihrer Eltern und Verwandten hat diese Jugend hinter sich. Vor sich hat siemit dem Universitätsprofessor einen trotteligen Humanismus und mit dem Ingenieur einenautoritären Charakter, der vor Chefs kuscht und Frauen sexuell erpresst. Solche Aussichten lassenmanche von Blues Freunden starke Medikamente nehmen, andere fahren mit dem gestohlenen Autoin den Tod. Blue nimmt diese Tragik nur wahr, wenn es gar nicht anders geht. Er erzählt mutwilliggutgelaunt und augenblickstrunken vom Glück, das er täglich neu beim Hin-und-her-Gehen auf derStrasse findet und das aus Ablenkung und Vergessen besteht. Am Ende bricht er mit der GeliebtenCsicsi auf. Sie fahren ohne Ziel los, weil es in dieser Welt keinen Ort für ihre Sehnsucht gibt.Die Tristesse von Novi Sad (im Roman ungarisch Újvidék genannt) ist nicht jugoslawisch, sondernfranzösisch und englisch codiert: Végel benutzt Motive aus Françoise Sagans «Bonjour tristesse»und Shakespeares «Viel Lärm um nichts», erwähnt werden Sylvie Vartan, François Truffaut und dieBeatles, Jean-Luc Godards «A bout de souffle» spielt eine prominente Rolle. Es macht die Lage vonBlue und seinen Freunden vielleicht noch aussichtsloser, dass sie ihr Lebensgefühl nur fern derLandesgrenzen wiederfinden. Die Feier des Selbst, wie sie heute üblich geworden ist, kennen sienoch nicht. Ihr Leben gründet auf rauer, ruppiger Negativität, die, das ist die grösste Furcht, nichtlange durchzuhalten ist. Es ist, als ob die alten Vorstellungen vom Glück durchschaut und keineneuen an ihre Stelle getreten wären. Diese Wüstenei der Existenz erkunden die «Bekenntnisse einesZuhälters» mit der Kraft der Verzweiflung und dem Willen zum Amüsement. Ein in seinergutgelaunten Düsterkeit grossartiger Roman.László Végel: Bekenntnisse eines Zuhälters. Roman. Aus dem Ungarischen von Lacy Kornitzer. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2011. 251 S., Fr. 30.50.Copyright © Neue Zürcher Zeitung AGAlle Rechte vorbehalten. Eine Weiterverarbeitung, Wiederveröffentlichung oder dauerhafte Speicherung zu gewerblichen oder anderenZwecken ohne vorherige ausdrückliche Erlaubnis von NZZ Online ist nicht gestattet.