Nach Berlin….
Überzetzung: Lacy Kornitzer
Du bist angekommen. Streifst zu Fuß durch die Straßen,
umkreist immer wieder die bekannten Plätze, jagst dir
selbst hinterher, bis zur Atemlosigkeit, bis die Beinmuskeln
brennen: hartnäckig kontrollierst du deine inneren
Bilder, willst wissen, ob sie dich täuschen, ob du dich
täuschst. Stellst Fragen an deine neuen Bekannten, versenkst
dich in Zeitungen, denkst an vor langer Zeit gelesene
Bücher voller Notizen an den Rändern. Überprüfst
deinen Traum, der Europa ist. An das du aus der Ferne
mit respektvoller Rührung gedacht hast, jahrzehntelang,
in schuldbewusster, naiver Hoffnung. Die Opfer,
die du für diese Hoffnung gebracht hast, zählst du nicht.
Du konntest dich dem Einfluss des Einparteiensystems,
dessen Kind du bist, nie entziehen, es bestimmte dich
stets, selbst dann, wenn du ihm die Stirn botest. Es hat
sich in all deine Poren eingenistet, dich zu seinem Komplizen
gemacht, auf Irrwege geführt, auf denen du den
Illusionen namens glückliche Zukunft nachjagtest. Der
utopische Weg wurde zum Damaskus-Weg. Mit dem
Gefühl dieses Fiaskos erkundest du Berlin, mit diesem
nicht wiedergutzumachenden Schuldbewusstsein eines
sich Verschwendenden.
Du wolltest nie etwas anderes sein als ein neugieriger
Reisender – in Berlin begreifst du, du bist nicht willkommen.
Bist ein Eindringling, einer aus dem Randgebiet,
halte dich vom Zentrum fern, so lautet die Losung;
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bisher kanntest du nur das erbärmliche Gezänk der
kleinen Nationen, jetzt erlebst du den vornehmen Egoismus
der großen. Du bist doch nur ein Stiefkind, man
lässt es dich spüren, eine vergnomte Menschenart des
Barbaricums, irreparabel. Lerne die Sprache der großen
europäischen Nationen, mache dir ihre Kultur zu eigen,
das könnte, wenigstens teilweise, deine Geburtsfehler
wettmachen. Sprich nicht über das Barbaricum,
die Kenntnisse von deiner Welt sind hier unwichtig.
In einem heruntergekommenen Stadtteil, in dem
du dich plötzlich wiederfindest, dringen vertraute
Worte an dein Ohr; hier leben Asiaten, Leute vom Balkan,
Gastarbeiter aus den Donaugebieten des Ostens.
In billigen Kaschemmen stehen sie herum, erfüllt von
der Sehnsucht nach der Heimat und der Angst, eines
Tages hinauskomplimentiert zu werden. Freiwillige
europäische Sklaven, die sich, wenn nichts schiefgeht,
in der Heimat einst einen Garten Eden von ihren Ersparnissen
werden kaufen können. Diese Sklaverei ist
zur letzten sozialistischen Utopie geworden. Sie sprechen
deine Sprache, du aber verschweigst deine Herkunft,
aus Scham, dass du letzten Endes genauso bist
wie sie, ein seelischer Sklave. Du schlägst die Richtung
zur Stadtmitte ein, die Nutten am Ende des Kurfürstendamms
sprechen ungarisch, serbisch, polnisch, tschechisch
miteinander. Wenn Polizeiwagen auftauchen,
schlüpfen die Mädchen unter die Arkaden. Trunkene
Einheimische taumeln zwischen ihnen herum, wollen
feilschen, das Barbarenfleisch kostet, sie fluchen
wegen des zu hohen Tarifs. Einzig der pechschwarze
Berliner Himmel bietet den Mädchen Schutz. In den
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Salons plaudern vom Sozialismusmus enttäuschte Intellektuelle
aus Prag, Budapest, Belgrad und Zagreb in
bußfertigem Ton über die Vergehen der Linken, sowohl
nationalistische als auch lorbeerbekränzte Dichter und
Denker des Einparteiensystems gerieren sich als Oppositionelle.
Das Bier schäumt in den Gläsern, die Klagen
der Barbaren ermuntern die Zivilisierten: sieh an, wir
haben mit unserer Einschätzung richtig gelegen! Sie
klopfen den reuigen Sündern auf die Schultern, die
dann erleichtert darüber, die Wahrheit gesprochen, die
Pflicht erfüllt zu haben, die Heimreise antreten.
Hier im Westen, in der Wiege des Individualismus,
wird deine Persönlichkeit wie die Wurst an der Imbissbude
verzehrt. Lass alle Illusion fahren; jahrzehntelang
träumtest du im Barbaricum, das sich von allem
isolierte, von deinem eigenen Europa, hegtest sorgsam
deine Illusionen, weil du nicht den Mut hattest, auszubrechen.
Kein äußerer Zwang hat dich am Fortgehen
gehindert, sondern die Angst, für immer mit dir, mit
deiner Vergangenheit zu brechen. Die Jahre vergingen
und die Hoffnung, dein Europa je zu Gesicht zu bekommen,
schwand, doch dann, mit beinahe fünfzig, standest
du plötzlich mittendrin – ein spätes Geschenk, das
dir keine Freude mehr bereiten konnte.
Du bist unter einer Glocke aufgewachsen, du kanntest
nur diese eine Welt, die mal spöttisch-bitter, mal
begeistert sozialistisch genannt wurde. Im Nachhinein
kannst du sie verurteilen, verleugnen, dir ständig
versichern, dem kommunistischen Abenteuer niemals
freiwillig gedient zu haben. Dein Gewissen aber lässt
sich nicht in die Irre führen, schließlich war es dieses
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Abenteuer, das dein Leben bestimmt hat und von dem
du dich nicht lossagen kannst. Es wird dich dein Leben
lang verfolgen, in deinen Reflexen weiterleben, dein
Gedanke sein, wenn du aus dem Schlaf hochfährst. Du
wälzt dich im Bett, dein Atem geht schwer, du stehst
auf, tappst im Dunkeln umher, trinkst ein Glas Limonade,
beißt in den Apfel, der auf dem Stuhl neben dem
Bett gelegen hat. Lauschst den nächtlichen Geräuschen.
Ein wenig Zeit ist dir noch geblieben. Die Tage werden
immer kürzer, die Nächte länger. Du begreifst, dass du
keine Sache je wirklich zu Ende gebracht hast.
Diese Nachtstille von damals stellt sich jetzt wieder
ein, in dem billigen Berliner Zimmer, in dem du
abgestiegen bist und gegen das Heimweh ankämpfst.
Du grübelst über die vielen, die in der noch sozialistischen
Welt bald den Clown geben werden, wenn sie
selbstgewiss hinausschreien, sie seien schon immer im
Bild gewesen, hätten schon immer alles gewusst und
sich keiner Macht je gebeugt, am allerwenigsten dem
kommunistischen Dämon; frischgebackene postsozialistische
Propheten, die ihre Hände in Pilatusscher Unschuld
waschen. Tödliche Clowns, die ein Leben lang
Charakterstudien von dir angefertigt haben, darüber
befanden, ob du dich für die Welt eignest, und die nun
auf die Fahnen spucken, die sie zuvor noch inbrünstig
geschwenkt haben, und dir dabei triumphierend auf
die Schulter klopfen: Sieh, wir haben alles zum Einsturz
gebracht. Doch die Ruinen trösten dich nicht, du bist
vorsichtig, auf diese Truppe der Unbeirrbaren wird die
nächste folgen, und man kann nie wissen, was sie für
dich bereithalten. Dergestalt bedrängt dich in Berlin
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das Heimweh, ein Heimweh, das an keinen Ort gebunden
ist. Du lehnst die neue Heuchelei ab, verzichtest
auf das Spektakel, bei dem jeder jedem Ehre bezeugt.
Zwischen den Ruinen gibt es kein Glück. Du schnappst
nach Luft, drohst zu ersticken. Wie seit jeher, schleppst
du auch jetzt noch, im Alter, deinen Hang zur Selbstquälerei
überallhin mit, diese melancholische Erkenntnis
macht dich in den Straßen Berlins noch mehr zu einem
Verstoßenen. Hier soll dich dein Gewissen, das Wissen
um deine Vergangenheit noch mehr quälen. Die Diagnose
lautet, du leidest an einer unheilbaren Krankheit.
Man sagt es dir offen ins Gesicht und erwartet von Dir
zugleich Dankbarkeit für die schmerzlindernden Mitteln,
mit denen man dich vorübergehend versorgt, aus
Dankbarkeit sollst du zudem darüber schweigen, dass
sie es waren, die die Krankheit in dir ausgelöst haben:
Mit zwei Skalpellen wurde an der Wunde von Jalta geschnitten,
das eine blitzte in der Hand des Westens. Aus
den Jahrhunderte währenden Streitigkeiten, den Weltkriegen,
dem geschichtlichen Roulettespiel ist stets der
zivilisierte Westen als Sieger über seine schlafsüchtigen
Randgebiete hervorgegangen.
Du hast aus diesen Niederlagen nichts gelernt. In
den geheimnisvollen Labyrinthen des Einparteiensystems
steigerte sich deine Nostalgie für den schuldig
gesprochenen Westen sogar noch; die unwirkliche Welt
lag weit weg von der Falle, in der du saßest. Auch wenn
dich Schuldgefühle überkamen, bliebst du, redetest dir
ein, du könntest nicht in der Fremde leben. Du hast dich
abgefunden, deine selbstgewählte Last auf dich genommen
und dich überhoben. Schöne deine Vergangenheit
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nicht, deine unerklärlichen Irrtümer, diesen düsteren
Zickzackkurs hast du selbst gewollt. Nichts spricht
dich frei, auch nicht die Tatsache, dass du gezwungen
worden wärest, mit dem Strom zu schwimmen, wenn
du dich gegen ihn gewandt hättest. Du bist ein Davongekommener,
doch das allein ist keine Entschuldigung.
Die Macht gab sich großzügig, gewährte dir, bevor sie
dich zum Schweigen brachte, etwas Vorsprung, spielte
mit dir Katz und Maus, ließ dich in dem Glauben, du
seist ein tapferer Opositioneller, während du nur ihr
Spielzeug warst.
Es brennt dir im Körper, du ringst um Erkenntnis.
In Berlin geht dir mit einem Mal auf, wie sehr du belogen
worden bist, wie sehr du dich belogen hast, dein
Wissen um die Dinge war falsch und überflüssig. Zur
Begeisterung, zur Freude bist du nicht fähig. Du bist
angekommen, und nun kannst du prüfen, ob sich die
Wirklichkeit mit dem Bild deckt, das du dir im Überlebenskampf
gemacht hast, dem Bild von der westlichen
Welt, dem offiziellen Feindbild deiner Kindheit, das
du dir im Geheimen und mit nicht geringem Schuldbewusstsein
zum Komplizen gemacht hast, ohne die
Pflichtlektüre zu vernachlässigen. Allmählich klärt
sich das. Um besser zu sehen, schließt du die Augen.
Die Orientierung fiele dir leichter, wenn dich nicht die
gegenständliche Welt umgäbe. Bei der Kontrolle deiner
Phantasie steht dir die Wirklichkeit im Weg, du
bist ihr nicht gewachsen. Die Spuren deiner Träume
lassen sich nicht verwischen, doch bist du selbst ohne
jede Spur. Die Gegend, aus der du gekommen bist, gilt
hier bloß als Phantom. Deine Sorgen sind wie eine an13
steckende Krankheit, du bist ein gefährlicher Bazillenträger,
den man regelmäßig desinfizieren muss.
Europa ist für die Sieger zu klein, für die Verlierer
zu groß. Nach diesem Prinzip suchen beide ihren Platz.
Je besser du Europa kennenlernst, umso demütigender
ist es, ein Verlierer zu sein. Du begreifst, dass du gleich
nach Übertretung der magischen Landesgrenze selbst
den Kotau gemacht hast: Mit gesenktem Kopf wartetest
du, dass der Grenzer deinen Pass abstempelt; dieser Moment
deines Ausgeliefertseins steht dir vor Augen, während
du taktvoll die Gesichtszüge deiner neuen Bekannten
studierst. Du möchtest in sie, in ihre Welt hineinblicken,
willst alles von ihnen wissen. Du unterhältst dich
mit ihnen, fragst sie aus, ob sie sich ihres geschichtlichen
Verrats bewusst sind, und der Jahrhunderte, in denen
sie dich geopfert haben, um ihre eigene Haut zu retten.
Das wollen sie nicht hören, Anklagen unehelicher Kinder
sind sie nicht gewohnt. Tölpel sollen schweigen. Sie
haben keinerlei Empathie, im Laufe der Unterhaltung
stellst du fest, dass es zwischen dir und ihnen kaum Verständigung
geben kann. Sie bedauern dein Schicksal,
kennen es aus den Zeitungen, haben in den Illustrierten
von deinem Leid gelesen, die Interviews mit Dissidenten
interessiert verfolgt, ja, den Sport natürlich auch, und
unbewusst befürchteten sie, der bolschewistische Virus
könne bis zu ihnen vordringen. Sie klopfen dir auf die
Schulter, du warst ein guter Grenzposten, hast sie mit
deinem Körper geschützt, endlich ist der Sturm vorüber,
die Gefahr abgewendet, ruh dich aus, sagen sie, und blättern
in der Zeitung zu den Sportnachrichten. Sie tragen
keine Mitschuld. Sie sind nicht begierig zu wissen, was
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dir, dem braven Grenzposten, unter der Haut brennt.
Deine zaghaft vorgebrachten zweideutigen Anspielungen
finden sie ein wenig sonderbar, und obschon sie dir
ihr Mitgefühl für das mittelosteuropäische Debakel bekunden,
wahren sie taktvoll Distanz: gehen dir taktvoll
aus dem Weg, als littest du an einer Seuche. Gelegentlich
loben sie dich, da du doch einstweilen von der Pest genesen
bist, wissen aber, dass du nie endgültig gesunden
kannst. Der Bettelstab ist ein abstoßendes Symbol. Halte
du dich als freiwilliges Opfer unter dem Seziermesser
weiterhin bereit für das Experiment an der Geschichte.
Deine Monologe könntest du beliebig fortsetzen, sie wären
auch dann nicht zu verstehen, wenn deine Zuhörer
ernsthaft zuhörten. Ein paar skandalöse politische Dinge
haben sie freilich in Erinnerung behalten, ja, sie wüssten
Bescheid über die kommunistische Diktatur, sagen
sie, und damit ist die makabre Zeitanalyse von der Tagesordnung.
Zu mehr fühlen sie sich nicht verpflichtet,
lassen dich aber spüren, dass du ihnen etwas schuldig
bist. Nach Berlin … seufzt du resigniert. Du bist ein Paria,
eine problematische Natur, einer vom Randgebiet. Du
kommst von dort, wo sich der Balkan mit der pannonischen
Landschaft trifft, ein verdächtiger Europäer, der
dem jederzeit kreditwürdigen Europa Verantwortung
schuldet. Du wirst dich dein Leben lang beweisen müssen.
Sie, lauter eingeborene Europäer, meinen es gut mit
dir. Ihr Interesse an dir ist marginal, es steht fest, du bist
Europas Bastard, doch selbst diese Bezeichnung musst du
dir erst einmal erarbeiten.
Du leidest an geschichtlicher Schizophrenie, Europas
geknebeltes Gedächtnis ist dir ein unheildrohendes
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Zeichen. Das lebenserhaltende Element deiner Erinnerung
ist nicht das Leben, sondern die Kultur. Europa
verstummt, sobald es seine Schuld gegenüber der Kultur,
der Peripherie eingestehen soll. Du willst die Erinnerung
wachhalten, kämpfst täglich von Neuem für
sie, rettest die Kultur vor dem Leben. So hoffst du manches
zu bewahren, während die Ideologen des Lebens
dich schadenfroh verspotten, weil du deine Zuflucht im
Nebligen suchst. Die Worte deiner Zensoren hallen in
deinem Ohr wider. Deine Wirklichkeit, so hieß es einst,
soll einfühlsam beschrieben sein, diskret klassenkämpferisch,
und dann – als diese Worte sich verbraucht hatten
– wurdest du verpflichtet, sorglos mit den Worten
zu spielen, schlanke Sätze in der vom Elend gezeichneten
Welt zu Papier zu bringen, während in den Salons
die Kommissare an der Zigarre zogen und die Schönheit
lobten. Dann verbrauchte sich auch das, unter den
Mächtigen der Randgebiete erbebte die Erde, und nun
solltest du die Nation lobpreisen, so befahlen es ihre
Retter und gesegneten Führer. Wo du auch hinblicktest,
überall falsche Propheten, die Menschen hungerten
und sehnten sich nach einer anderen Welt, die Propheten
aber schossen wie Pilze aus dem Boden. Das war
die Geschichte. Nicht der eine oder andere Gedanke in
ihr war falsch, sondern restlos alles, das ganze Leben,
die ganze Wirklichkeit. Was konkret und erfahrbar war,
ist Irreführung und Lüge geworden. Die Massen haben
sich verschworen, der Bruder soll den Bruder, die eine
Nation die andere massakrieren, verfolgen, hassen, für
immer verdammen. Das größte Blendwerk des blutigen
Mysteriums an der Donau ist in der Tat die Realität ge16
wesen. Noch jetzt fordern die hochdekorierten Diener
der Lüge von dir Rechenschaft über die Realität. Dass
deine Wirklichkeit jenseits alles Sichtbaren und Spürbaren
liegt, jenseits des Opiums für den kollektiven
Wirklichkeitsgenuss, spielt keine Rolle. In Mittelosteuropa
ist die größte Lüge gerade die Wirklichkeit, an die
du nicht glaubst, an der du nicht interessiert bist; du
möchtest dich an dem festhalten, was sich über ihr befindet,
was dich wie eine nicht benennbare Kraft führt
und was du, aus Angst, den reinen, von allem abstrahierenden
Gedanken nennst. Die Angst ist es, die dir die
letzte Gnade, Erlösung bringen kann.
Du sitzt in der S-Bahn-Linie 2, Potsdamer Platz, Unter
den Linden, Friedrichstraße, Nordbahnhof, der Zug rast
weiter, an diesen Stationen hält er nicht, schwarze, leere
Räume, nur da und dort sickert etwas Licht durch;
in den dunklen Fluren huschen Schatten vorbei, du
denkst, es seien Soldaten. Am Humboldthain hält die
Bahn, die Menge drängelt sich herein, du wirst ruhiger,
blickst vor dich hin, als hättest du einen Albtraum überstanden,
die anderen Fahrgäste aber wirken gleichgültig,
die unerwartete Stille, die durch die dunklen Tunnel
entsteht, scheint ihnen nichts auszumachen. Die
Szene birgt jedoch unheilvolle Erinnerungen. Die Berliner
Bürger vergessen nicht. Es ist nur Schein, denkst
du – die zweigeteilte Stadt, Europas größter Schmerz,
der deine Geschichte schicksalhaft bestimmt. Jahre später
erreicht dich in der Nacht die Nachricht: Die Mauer
fällt, du aber weißt, dass deine persönliche Geschichte
davon grundsätzlich unberührt bleibt. Du denkst an
jene Momente, als du dich mit deinen Berliner Freun17
den in die Nähe der Mauer verirrtest und ihren verstohlenen,
Unheil witternden Blick zur Mauer erhaschtest,
dann ihren Blick zum Himmel, als wollten sie von den
Rachegöttern Hilfe erbitten. Doch die an den Himmel
gerichtete Bitte sprachen sie nicht aus, sie sagten nur
ganz sachlich, es handele sich um die größte menschliche
und politische Ungerechtigkeit, die einer Nation
wiederfahren kann. Von göttlicher Rache war keine
Rede. Für sie begann die europäische Ungerechtigkeit
dort, wo die Mauer begann – und dort endete sie auch.
Die unsichtbaren europäischen Mauern, an denen
immer wieder kleinere Feuer aufflammen, wurden
nicht niedergerissen. In Europas Randgebieten sind
die Mauern unbezwingbar. Die Kriege, die Mächtigen
haben Völker und Städte aufgeteilt, Flüsse zweigeteilt,
in der europäischen Geschichte bedeuteten die Siege
schon immer das Spiel der Großen mit den Kleinen, um
– wie es hieß – ihrer eigenen Sicherheit willen. Schon
immer haben die Großen leichtfertig ihre unehelichen
Kinder geopfert. Du beobachtest die Gesichter deiner
Berliner Freunde, du verstehst sie, nur sie dich nicht.
Aber mit welchem Recht forderst du auch Verständnis?
Mit einem Mal geht es dir auf: Die leidenschaftlichsten
Europäer kommen an Europas Rändern auf die Welt;
es ist der Komplex der Bastarde, dem dein Europabewusstsein
entspringt. Sie ahnen das und finden es deshalb
nur natürlich, dass du Risiken auf dich nimmst für
Ideen, deren Nutznießer sie sind.
Den Kindern der großen Nationalstaaten bist du
eine dubiose Figur, sie mustern dich unsicher, können
sich keinen Begriff von dir machen; würde man dich
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in ein Museum stellen, würde dir beste Pflege zuteil,
doch in der Wirklichkeit bist du ein Störfaktor. Sie verstehen
deine Geschichte nicht, die ihre Väter erfunden
und die sie geerbt haben. Du bist Teil dieses Erbes.
Weshalb sie dich gern los wären, wie eine unangenehme
Erinnerung an die eigene Hurerei. Eifrig argumentierst
du, wiederholst dich, die ständige Wiederholung
macht dich lächerlich. Du zählst nicht. Bist ein nützliches
Übel, ein im Randgebiet Vergessener, verwahrlost,
halb barbarisch, halb zivilisiert.
Du, ein europäischer Indianer, ein Barbar auf Westreise,
schämst dich für deine Vergangenheit, für deine
blutige Geschichte, für den Hass, in dem du aufgewachsen
bist, schämst dich für den Albdruck, der dir
eingeimpft wurde, für das Schweigen aus Angst. Berlin
mit und ohne Mauer. Landschaftsbild unter fernem
Blitzlicht. Gepflegte Rasenflächen. Die fremden Barbarenhände
sind billige Arbeitskräfte, sie mähen Gras,
kümmern sich um Blumenbeete, säubern die Straßen.
Putzen Fenster. Die glänzende Fontäne vor dem Europahaus
schießt in den Himmel. Wunderschöne gelbe
und rote Rosen drumherum. Europa leuchtet. Hier ist
alles sicherer als dort, wo du hergekommen bist. Du
seist Europäer, beteuerst du verkrampft, ohne Heimat
auf deinem eigenen Kontinent.
Vielleicht ist es diese Heimatlosigkeit, die dich zum
Gefangenen einer imaginären Heimat macht. Blind
irrst du in Berlin umher. Nun kennst du den kleinen
Fleck imaginäre Erde unter deinen Füßen, und es wird
für dich nur natürlich, auszuweichen, den Weg zurück
ins Dunkel zu gehen, nach Europa, das nicht ist.