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AAH, WAIT, I REMEMBER NOW!

Végel László

Donnerstag, 29 März 2012 / Published in Prosa

Nach Berlin…

Nach Berlin…. 

Überzetzung: Lacy Kornitzer

Du bist angekommen. Streifst zu Fuß durch die Straßen,

umkreist immer wieder die bekannten Plätze, jagst dir

selbst hinterher, bis zur Atemlosigkeit, bis die Beinmuskeln

brennen: hartnäckig kontrollierst du deine inneren

Bilder, willst wissen, ob sie dich täuschen, ob du dich

täuschst. Stellst Fragen an deine neuen Bekannten, versenkst

dich in Zeitungen, denkst an vor langer Zeit gelesene

Bücher voller Notizen an den Rändern. Überprüfst

deinen Traum, der Europa ist. An das du aus der Ferne

mit respektvoller Rührung gedacht hast, jahrzehntelang,

in schuldbewusster, naiver Hoffnung. Die Opfer,

die du für diese Hoffnung gebracht hast, zählst du nicht.

Du konntest dich dem Einfluss des Einparteiensystems,

dessen Kind du bist, nie entziehen, es bestimmte dich

stets, selbst dann, wenn du ihm die Stirn botest. Es hat

sich in all deine Poren eingenistet, dich zu seinem Komplizen

gemacht, auf Irrwege geführt, auf denen du den

Illusionen namens glückliche Zukunft nachjagtest. Der

utopische Weg wurde zum Damaskus-Weg. Mit dem

Gefühl dieses Fiaskos erkundest du Berlin, mit diesem

nicht wiedergutzumachenden Schuldbewusstsein eines

sich Verschwendenden.

Du wolltest nie etwas anderes sein als ein neugieriger

Reisender – in Berlin begreifst du, du bist nicht willkommen.

Bist ein Eindringling, einer aus dem Randgebiet,

halte dich vom Zentrum fern, so lautet die Losung;

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bisher kanntest du nur das erbärmliche Gezänk der

kleinen Nationen, jetzt erlebst du den vornehmen Egoismus

der großen. Du bist doch nur ein Stiefkind, man

lässt es dich spüren, eine vergnomte Menschenart des

Barbaricums, irreparabel. Lerne die Sprache der großen

europäischen Nationen, mache dir ihre Kultur zu eigen,

das könnte, wenigstens teilweise, deine Geburtsfehler

wettmachen. Sprich nicht über das Barbaricum,

die Kenntnisse von deiner Welt sind hier unwichtig.

In einem heruntergekommenen Stadtteil, in dem

du dich plötzlich wiederfindest, dringen vertraute

Worte an dein Ohr; hier leben Asiaten, Leute vom Balkan,

Gastarbeiter aus den Donaugebieten des Ostens.

In billigen Kaschemmen stehen sie herum, erfüllt von

der Sehnsucht nach der Heimat und der Angst, eines

Tages hinauskomplimentiert zu werden. Freiwillige

europäische Sklaven, die sich, wenn nichts schiefgeht,

in der Heimat einst einen Garten Eden von ihren Ersparnissen

werden kaufen können. Diese Sklaverei ist

zur letzten sozialistischen Utopie geworden. Sie sprechen

deine Sprache, du aber verschweigst deine Herkunft,

aus Scham, dass du letzten Endes genauso bist

wie sie, ein seelischer Sklave. Du schlägst die Richtung

zur Stadtmitte ein, die Nutten am Ende des Kurfürstendamms

sprechen ungarisch, serbisch, polnisch, tschechisch

miteinander. Wenn Polizeiwagen auftauchen,

schlüpfen die Mädchen unter die Arkaden. Trunkene

Einheimische taumeln zwischen ihnen herum, wollen

feilschen, das Barbarenfleisch kostet, sie fluchen

wegen des zu hohen Tarifs. Einzig der pechschwarze

Berliner Himmel bietet den Mädchen Schutz. In den

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Salons plaudern vom Sozialismusmus enttäuschte Intellektuelle

aus Prag, Budapest, Belgrad und Zagreb in

bußfertigem Ton über die Vergehen der Linken, sowohl

nationalistische als auch lorbeerbekränzte Dichter und

Denker des Einparteiensystems gerieren sich als Oppositionelle.

Das Bier schäumt in den Gläsern, die Klagen

der Barbaren ermuntern die Zivilisierten: sieh an, wir

haben mit unserer Einschätzung richtig gelegen! Sie

klopfen den reuigen Sündern auf die Schultern, die

dann erleichtert darüber, die Wahrheit gesprochen, die

Pflicht erfüllt zu haben, die Heimreise antreten.

Hier im Westen, in der Wiege des Individualismus,

wird deine Persönlichkeit wie die Wurst an der Imbissbude

verzehrt. Lass alle Illusion fahren; jahrzehntelang

träumtest du im Barbaricum, das sich von allem

isolierte, von deinem eigenen Europa, hegtest sorgsam

deine Illusionen, weil du nicht den Mut hattest, auszubrechen.

Kein äußerer Zwang hat dich am Fortgehen

gehindert, sondern die Angst, für immer mit dir, mit

deiner Vergangenheit zu brechen. Die Jahre vergingen

und die Hoffnung, dein Europa je zu Gesicht zu bekommen,

schwand, doch dann, mit beinahe fünfzig, standest

du plötzlich mittendrin – ein spätes Geschenk, das

dir keine Freude mehr bereiten konnte.

Du bist unter einer Glocke aufgewachsen, du kanntest

nur diese eine Welt, die mal spöttisch-bitter, mal

begeistert sozialistisch genannt wurde. Im Nachhinein

kannst du sie verurteilen, verleugnen, dir ständig

versichern, dem kommunistischen Abenteuer niemals

freiwillig gedient zu haben. Dein Gewissen aber lässt

sich nicht in die Irre führen, schließlich war es dieses

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Abenteuer, das dein Leben bestimmt hat und von dem

du dich nicht lossagen kannst. Es wird dich dein Leben

lang verfolgen, in deinen Reflexen weiterleben, dein

Gedanke sein, wenn du aus dem Schlaf hochfährst. Du

wälzt dich im Bett, dein Atem geht schwer, du stehst

auf, tappst im Dunkeln umher, trinkst ein Glas Limonade,

beißt in den Apfel, der auf dem Stuhl neben dem

Bett gelegen hat. Lauschst den nächtlichen Geräuschen.

Ein wenig Zeit ist dir noch geblieben. Die Tage werden

immer kürzer, die Nächte länger. Du begreifst, dass du

keine Sache je wirklich zu Ende gebracht hast.

Diese Nachtstille von damals stellt sich jetzt wieder

ein, in dem billigen Berliner Zimmer, in dem du

abgestiegen bist und gegen das Heimweh ankämpfst.

Du grübelst über die vielen, die in der noch sozialistischen

Welt bald den Clown geben werden, wenn sie

selbstgewiss hinausschreien, sie seien schon immer im

Bild gewesen, hätten schon immer alles gewusst und

sich keiner Macht je gebeugt, am allerwenigsten dem

kommunistischen Dämon; frischgebackene postsozialistische

Propheten, die ihre Hände in Pilatusscher Unschuld

waschen. Tödliche Clowns, die ein Leben lang

Charakterstudien von dir angefertigt haben, darüber

befanden, ob du dich für die Welt eignest, und die nun

auf die Fahnen spucken, die sie zuvor noch inbrünstig

geschwenkt haben, und dir dabei triumphierend auf

die Schulter klopfen: Sieh, wir haben alles zum Einsturz

gebracht. Doch die Ruinen trösten dich nicht, du bist

vorsichtig, auf diese Truppe der Unbeirrbaren wird die

nächste folgen, und man kann nie wissen, was sie für

dich bereithalten. Dergestalt bedrängt dich in Berlin

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das Heimweh, ein Heimweh, das an keinen Ort gebunden

ist. Du lehnst die neue Heuchelei ab, verzichtest

auf das Spektakel, bei dem jeder jedem Ehre bezeugt.

Zwischen den Ruinen gibt es kein Glück. Du schnappst

nach Luft, drohst zu ersticken. Wie seit jeher, schleppst

du auch jetzt noch, im Alter, deinen Hang zur Selbstquälerei

überallhin mit, diese melancholische Erkenntnis

macht dich in den Straßen Berlins noch mehr zu einem

Verstoßenen. Hier soll dich dein Gewissen, das Wissen

um deine Vergangenheit noch mehr quälen. Die Diagnose

lautet, du leidest an einer unheilbaren Krankheit.

Man sagt es dir offen ins Gesicht und erwartet von Dir

zugleich Dankbarkeit für die schmerzlindernden Mitteln,

mit denen man dich vorübergehend versorgt, aus

Dankbarkeit sollst du zudem darüber schweigen, dass

sie es waren, die die Krankheit in dir ausgelöst haben:

Mit zwei Skalpellen wurde an der Wunde von Jalta geschnitten,

das eine blitzte in der Hand des Westens. Aus

den Jahrhunderte währenden Streitigkeiten, den Weltkriegen,

dem geschichtlichen Roulettespiel ist stets der

zivilisierte Westen als Sieger über seine schlafsüchtigen

Randgebiete hervorgegangen.

Du hast aus diesen Niederlagen nichts gelernt. In

den geheimnisvollen Labyrinthen des Einparteiensystems

steigerte sich deine Nostalgie für den schuldig

gesprochenen Westen sogar noch; die unwirkliche Welt

lag weit weg von der Falle, in der du saßest. Auch wenn

dich Schuldgefühle überkamen, bliebst du, redetest dir

ein, du könntest nicht in der Fremde leben. Du hast dich

abgefunden, deine selbstgewählte Last auf dich genommen

und dich überhoben. Schöne deine Vergangenheit

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nicht, deine unerklärlichen Irrtümer, diesen düsteren

Zickzackkurs hast du selbst gewollt. Nichts spricht

dich frei, auch nicht die Tatsache, dass du gezwungen

worden wärest, mit dem Strom zu schwimmen, wenn

du dich gegen ihn gewandt hättest. Du bist ein Davongekommener,

doch das allein ist keine Entschuldigung.

Die Macht gab sich großzügig, gewährte dir, bevor sie

dich zum Schweigen brachte, etwas Vorsprung, spielte

mit dir Katz und Maus, ließ dich in dem Glauben, du

seist ein tapferer Opositioneller, während du nur ihr

Spielzeug warst.

Es brennt dir im Körper, du ringst um Erkenntnis.

In Berlin geht dir mit einem Mal auf, wie sehr du belogen

worden bist, wie sehr du dich belogen hast, dein

Wissen um die Dinge war falsch und überflüssig. Zur

Begeisterung, zur Freude bist du nicht fähig. Du bist

angekommen, und nun kannst du prüfen, ob sich die

Wirklichkeit mit dem Bild deckt, das du dir im Überlebenskampf

gemacht hast, dem Bild von der westlichen

Welt, dem offiziellen Feindbild deiner Kindheit, das

du dir im Geheimen und mit nicht geringem Schuldbewusstsein

zum Komplizen gemacht hast, ohne die

Pflichtlektüre zu vernachlässigen. Allmählich klärt

sich das. Um besser zu sehen, schließt du die Augen.

Die Orientierung fiele dir leichter, wenn dich nicht die

gegenständliche Welt umgäbe. Bei der Kontrolle deiner

Phantasie steht dir die Wirklichkeit im Weg, du

bist ihr nicht gewachsen. Die Spuren deiner Träume

lassen sich nicht verwischen, doch bist du selbst ohne

jede Spur. Die Gegend, aus der du gekommen bist, gilt

hier bloß als Phantom. Deine Sorgen sind wie eine an13

steckende Krankheit, du bist ein gefährlicher Bazillenträger,

den man regelmäßig desinfizieren muss.

Europa ist für die Sieger zu klein, für die Verlierer

zu groß. Nach diesem Prinzip suchen beide ihren Platz.

Je besser du Europa kennenlernst, umso demütigender

ist es, ein Verlierer zu sein. Du begreifst, dass du gleich

nach Übertretung der magischen Landesgrenze selbst

den Kotau gemacht hast: Mit gesenktem Kopf wartetest

du, dass der Grenzer deinen Pass abstempelt; dieser Moment

deines Ausgeliefertseins steht dir vor Augen, während

du taktvoll die Gesichtszüge deiner neuen Bekannten

studierst. Du möchtest in sie, in ihre Welt hineinblicken,

willst alles von ihnen wissen. Du unterhältst dich

mit ihnen, fragst sie aus, ob sie sich ihres geschichtlichen

Verrats bewusst sind, und der Jahrhunderte, in denen

sie dich geopfert haben, um ihre eigene Haut zu retten.

Das wollen sie nicht hören, Anklagen unehelicher Kinder

sind sie nicht gewohnt. Tölpel sollen schweigen. Sie

haben keinerlei Empathie, im Laufe der Unterhaltung

stellst du fest, dass es zwischen dir und ihnen kaum Verständigung

geben kann. Sie bedauern dein Schicksal,

kennen es aus den Zeitungen, haben in den Illustrierten

von deinem Leid gelesen, die Interviews mit Dissidenten

interessiert verfolgt, ja, den Sport natürlich auch, und

unbewusst befürchteten sie, der bolschewistische Virus

könne bis zu ihnen vordringen. Sie klopfen dir auf die

Schulter, du warst ein guter Grenzposten, hast sie mit

deinem Körper geschützt, endlich ist der Sturm vorüber,

die Gefahr abgewendet, ruh dich aus, sagen sie, und blättern

in der Zeitung zu den Sportnachrichten. Sie tragen

keine Mitschuld. Sie sind nicht begierig zu wissen, was

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dir, dem braven Grenzposten, unter der Haut brennt.

Deine zaghaft vorgebrachten zweideutigen Anspielungen

finden sie ein wenig sonderbar, und obschon sie dir

ihr Mitgefühl für das mittelosteuropäische Debakel bekunden,

wahren sie taktvoll Distanz: gehen dir taktvoll

aus dem Weg, als littest du an einer Seuche. Gelegentlich

loben sie dich, da du doch einstweilen von der Pest genesen

bist, wissen aber, dass du nie endgültig gesunden

kannst. Der Bettelstab ist ein abstoßendes Symbol. Halte

du dich als freiwilliges Opfer unter dem Seziermesser

weiterhin bereit für das Experiment an der Geschichte.

Deine Monologe könntest du beliebig fortsetzen, sie wären

auch dann nicht zu verstehen, wenn deine Zuhörer

ernsthaft zuhörten. Ein paar skandalöse politische Dinge

haben sie freilich in Erinnerung behalten, ja, sie wüssten

Bescheid über die kommunistische Diktatur, sagen

sie, und damit ist die makabre Zeitanalyse von der Tagesordnung.

Zu mehr fühlen sie sich nicht verpflichtet,

lassen dich aber spüren, dass du ihnen etwas schuldig

bist. Nach Berlin … seufzt du resigniert. Du bist ein Paria,

eine problematische Natur, einer vom Randgebiet. Du

kommst von dort, wo sich der Balkan mit der pannonischen

Landschaft trifft, ein verdächtiger Europäer, der

dem jederzeit kreditwürdigen Europa Verantwortung

schuldet. Du wirst dich dein Leben lang beweisen müssen.

Sie, lauter eingeborene Europäer, meinen es gut mit

dir. Ihr Interesse an dir ist marginal, es steht fest, du bist

Europas Bastard, doch selbst diese Bezeichnung musst du

dir erst einmal erarbeiten.

Du leidest an geschichtlicher Schizophrenie, Europas

geknebeltes Gedächtnis ist dir ein unheildrohendes

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Zeichen. Das lebenserhaltende Element deiner Erinnerung

ist nicht das Leben, sondern die Kultur. Europa

verstummt, sobald es seine Schuld gegenüber der Kultur,

der Peripherie eingestehen soll. Du willst die Erinnerung

wachhalten, kämpfst täglich von Neuem für

sie, rettest die Kultur vor dem Leben. So hoffst du manches

zu bewahren, während die Ideologen des Lebens

dich schadenfroh verspotten, weil du deine Zuflucht im

Nebligen suchst. Die Worte deiner Zensoren hallen in

deinem Ohr wider. Deine Wirklichkeit, so hieß es einst,

soll einfühlsam beschrieben sein, diskret klassenkämpferisch,

und dann – als diese Worte sich verbraucht hatten

– wurdest du verpflichtet, sorglos mit den Worten

zu spielen, schlanke Sätze in der vom Elend gezeichneten

Welt zu Papier zu bringen, während in den Salons

die Kommissare an der Zigarre zogen und die Schönheit

lobten. Dann verbrauchte sich auch das, unter den

Mächtigen der Randgebiete erbebte die Erde, und nun

solltest du die Nation lobpreisen, so befahlen es ihre

Retter und gesegneten Führer. Wo du auch hinblicktest,

überall falsche Propheten, die Menschen hungerten

und sehnten sich nach einer anderen Welt, die Propheten

aber schossen wie Pilze aus dem Boden. Das war

die Geschichte. Nicht der eine oder andere Gedanke in

ihr war falsch, sondern restlos alles, das ganze Leben,

die ganze Wirklichkeit. Was konkret und erfahrbar war,

ist Irreführung und Lüge geworden. Die Massen haben

sich verschworen, der Bruder soll den Bruder, die eine

Nation die andere massakrieren, verfolgen, hassen, für

immer verdammen. Das größte Blendwerk des blutigen

Mysteriums an der Donau ist in der Tat die Realität ge16

wesen. Noch jetzt fordern die hochdekorierten Diener

der Lüge von dir Rechenschaft über die Realität. Dass

deine Wirklichkeit jenseits alles Sichtbaren und Spürbaren

liegt, jenseits des Opiums für den kollektiven

Wirklichkeitsgenuss, spielt keine Rolle. In Mittelosteuropa

ist die größte Lüge gerade die Wirklichkeit, an die

du nicht glaubst, an der du nicht interessiert bist; du

möchtest dich an dem festhalten, was sich über ihr befindet,

was dich wie eine nicht benennbare Kraft führt

und was du, aus Angst, den reinen, von allem abstrahierenden

Gedanken nennst. Die Angst ist es, die dir die

letzte Gnade, Erlösung bringen kann.

Du sitzt in der S-Bahn-Linie 2, Potsdamer Platz, Unter

den Linden, Friedrichstraße, Nordbahnhof, der Zug rast

weiter, an diesen Stationen hält er nicht, schwarze, leere

Räume, nur da und dort sickert etwas Licht durch;

in den dunklen Fluren huschen Schatten vorbei, du

denkst, es seien Soldaten. Am Humboldthain hält die

Bahn, die Menge drängelt sich herein, du wirst ruhiger,

blickst vor dich hin, als hättest du einen Albtraum überstanden,

die anderen Fahrgäste aber wirken gleichgültig,

die unerwartete Stille, die durch die dunklen Tunnel

entsteht, scheint ihnen nichts auszumachen. Die

Szene birgt jedoch unheilvolle Erinnerungen. Die Berliner

Bürger vergessen nicht. Es ist nur Schein, denkst

du – die zweigeteilte Stadt, Europas größter Schmerz,

der deine Geschichte schicksalhaft bestimmt. Jahre später

erreicht dich in der Nacht die Nachricht: Die Mauer

fällt, du aber weißt, dass deine persönliche Geschichte

davon grundsätzlich unberührt bleibt. Du denkst an

jene Momente, als du dich mit deinen Berliner Freun17

den in die Nähe der Mauer verirrtest und ihren verstohlenen,

Unheil witternden Blick zur Mauer erhaschtest,

dann ihren Blick zum Himmel, als wollten sie von den

Rachegöttern Hilfe erbitten. Doch die an den Himmel

gerichtete Bitte sprachen sie nicht aus, sie sagten nur

ganz sachlich, es handele sich um die größte menschliche

und politische Ungerechtigkeit, die einer Nation

wiederfahren kann. Von göttlicher Rache war keine

Rede. Für sie begann die europäische Ungerechtigkeit

dort, wo die Mauer begann – und dort endete sie auch.

Die unsichtbaren europäischen Mauern, an denen

immer wieder kleinere Feuer aufflammen, wurden

nicht niedergerissen. In Europas Randgebieten sind

die Mauern unbezwingbar. Die Kriege, die Mächtigen

haben Völker und Städte aufgeteilt, Flüsse zweigeteilt,

in der europäischen Geschichte bedeuteten die Siege

schon immer das Spiel der Großen mit den Kleinen, um

– wie es hieß – ihrer eigenen Sicherheit willen. Schon

immer haben die Großen leichtfertig ihre unehelichen

Kinder geopfert. Du beobachtest die Gesichter deiner

Berliner Freunde, du verstehst sie, nur sie dich nicht.

Aber mit welchem Recht forderst du auch Verständnis?

Mit einem Mal geht es dir auf: Die leidenschaftlichsten

Europäer kommen an Europas Rändern auf die Welt;

es ist der Komplex der Bastarde, dem dein Europabewusstsein

entspringt. Sie ahnen das und finden es deshalb

nur natürlich, dass du Risiken auf dich nimmst für

Ideen, deren Nutznießer sie sind.

Den Kindern der großen Nationalstaaten bist du

eine dubiose Figur, sie mustern dich unsicher, können

sich keinen Begriff von dir machen; würde man dich

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in ein Museum stellen, würde dir beste Pflege zuteil,

doch in der Wirklichkeit bist du ein Störfaktor. Sie verstehen

deine Geschichte nicht, die ihre Väter erfunden

und die sie geerbt haben. Du bist Teil dieses Erbes.

Weshalb sie dich gern los wären, wie eine unangenehme

Erinnerung an die eigene Hurerei. Eifrig argumentierst

du, wiederholst dich, die ständige Wiederholung

macht dich lächerlich. Du zählst nicht. Bist ein nützliches

Übel, ein im Randgebiet Vergessener, verwahrlost,

halb barbarisch, halb zivilisiert.

Du, ein europäischer Indianer, ein Barbar auf Westreise,

schämst dich für deine Vergangenheit, für deine

blutige Geschichte, für den Hass, in dem du aufgewachsen

bist, schämst dich für den Albdruck, der dir

eingeimpft wurde, für das Schweigen aus Angst. Berlin

mit und ohne Mauer. Landschaftsbild unter fernem

Blitzlicht. Gepflegte Rasenflächen. Die fremden Barbarenhände

sind billige Arbeitskräfte, sie mähen Gras,

kümmern sich um Blumenbeete, säubern die Straßen.

Putzen Fenster. Die glänzende Fontäne vor dem Europahaus

schießt in den Himmel. Wunderschöne gelbe

und rote Rosen drumherum. Europa leuchtet. Hier ist

alles sicherer als dort, wo du hergekommen bist. Du

seist Europäer, beteuerst du verkrampft, ohne Heimat

auf deinem eigenen Kontinent.

Vielleicht ist es diese Heimatlosigkeit, die dich zum

Gefangenen einer imaginären Heimat macht. Blind

irrst du in Berlin umher. Nun kennst du den kleinen

Fleck imaginäre Erde unter deinen Füßen, und es wird

für dich nur natürlich, auszuweichen, den Weg zurück

ins Dunkel zu gehen, nach Europa, das nicht ist.

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László Végel wurde 1941 in Srbobran, in der jugoslawischen Wojwodina, als Angehöriger der ungarischen Minderheit geboren. Er studierte im nahegelegenen Novi Sad sowie in Belgrad und arbeitete anschließend als Journalist, u.a. als Redakteur der Tageszeitung »Magyar Szó« und als Mitherausgeber der ebenfalls ungarischen Monatszeitung »Uj Symposion«. Als Dramaturg für das Fernsehen von Novi Sad sowie für das Volkstheater von Subotica verfasste er mehrere Drehbücher und Bühnenstücke.
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