Atmosphäre der Ausweglosigkeit
Lásló Végel : „Bekenntnisse eines Zuhälters“. Matthes & Seitz
Von Uli Hufen
( Deutschlandradio, 30. Juni 2011)
http://www.dradio.de/dlf/sendungen/buechermarkt/1494325/
„Die Bekenntnisse eines Zuhälters“ von 1967 weist frappierende Ähnlichkeiten mit Jean Eustaches Film „Die Mutter und die Hure“ auf, der erst 1973 entstand. Das Buch spielt in Novi Sad, der Film in Paris, und man fragt sich, ob die angeblich fundamentalen Unterschiede zwischen den beiden politischen Systemen damals wirklich so groß waren.
Jean Eustaches legendärer Film „Die Mutter und die Hure“ von 1973 zeigt das Leben einer Gruppe konfuser, orientierungs-, ambitions- und wurzelloser junger Leute. Der Film spielt im Sommer 1972 in Paris und zeigt eine Stadt, der die Euphorie und Zukunftsgewissheit des Mais 1968 gründlich abhanden gekommen sind. „Die Mutter und die Hure“ ist ein fast vierstündiger, deprimierter Abgesang auf die Hoffnungen und Träume einer ganzen Generation.
In diesem Frühjahr ist nun ein Roman zum ersten Mal auf Deutsch erschienen, der Eustaches Meisterwerk in nichts nachsteht: dieselbe verlorene Generation, dieselben Cafés und Bars, dieselben verlogenen Beziehungen, dieselbe frappierende Mischung aus Zynismus und Hoffnungslosigkeit. Allerdings erschien der Roman „Bekenntnisse eines Zuhälters“ sechs Jahre vor Eustaches Film, einige Monate, bevor das Epochenjahr 1968 überhaupt anbrach.
Wie das geht? Nun, „Die Bekenntnisse eines Zuhälters“ spielen weder in Paris noch in Westberlin, sie spielen in der Donaumetropole Novi Sad, die heute zu Serbien gehört, damals aber in Jugoslawien lag und bis zu den Sezessionskriegen der 90er-Jahre von einem buntem Völkergemisch bewohnt wurde, darunter viele Ungarn.
Einer von ihnen wurde 1941 geboren und heißt Lásló Végel. Végels „Bekenntnisse eines Zuhälters“ erschienen 1967 zunächst auf Ungarisch, kurz darauf auch in der serbischen Übersetzung des inzwischen verstorbenen, zu Lebzeiten ebenfalls in Novi Sad beheimateten Aleksandr Tisma.
Ich hob mein Glas. Langsam, Tropfen für Tropfen, mit Genuss trank ich. Am Besten verschwände ich hier ganz schnell, dachte ich. Ich sollte nach meinen Freunden suchen. Csicsi ist gegangen, ich habe mich noch nie so einsam gefühlt. Guter Gott, meine Freunde habe ich seit Tagen nicht mehr gesehen. Man verblödet vor Einsamkeit. Ohne Freunde durch die Gegend zu streifen ist schlecht. Extrem schlecht. Nicht allein zu sein, zusammen durch die Straßen zu ziehen, sich im Klub oder in den Gartenlokalen gemeinsam zu langweilen, hat für mich etwas Tröstliches.
Die jungen Frauen in Végels Roman heißen Bea, Olga, Tanja und Csicsi, die Männer tragen Fantasienamen wie Merkurosz, Tornadosz, Hem, Pud und Blue. Letzterer ist der Erzähler, es sind seine Bekenntnisse, die wir lesen. Die jungen Leute sind alle um die 20, manche arm, manche reich, manche studieren, manche arbeiten, manche tun gar nichts und einer schreibt an einem Roman.
Alle sind gelangweilt und nervös, alle trinken, alle haben Angst vor Liebe und Lust auf Sex. Aus lauter Einsamkeit und aus Angst, etwas zu verpassen, streift Blue unaufhörlich durch die Stadt. Vegel hat in einem Interview kürzlich erzählt, Novi Sad, Serbien und der Rest der ehemals sozialistischen Länder seien heute provinziell und fad geworden. Damals aber, Ende der 60er-Jahre, sei Novi Sad wie Berlin gewesen: vielstimmig und babylonisch.
Doch die coolen Bars und Cafés, die Vielsprachigkeit, die hybride Kultur der Stadt, die von Serben, Juden, Ungarn und Deutschen geprägt wurde, all das nützt Blue und den anderen Helden von Végels Roman wenig. Kein Glück nirgends, keine Perspektive, keine Hoffnung.
„Ich weiß nicht, was ich tun soll, und werde nie das machen können, was ich wirklich möchte. Man hofft nur, solange man blind durch die Welt läuft, im Zustand der Zufriedenheit, weil man sich vormachen kann, nichts tun zu müssen. Doch wenn man die Augen aufgemacht hat und tut, was man wirklich möchte, ziehen andere oder man selbst den Kürzeren. Man bezahlt dafür, samt Zinsen. Es lohnt sich deshalb nicht, sich in der Welt zu behaupten – es ist besser weiter zu hoffen. Wenn man sich nicht verbiegt, schlagen sie einem den Kopf ein. Der Mensch ist nicht dazu geschaffen, nach seinem eigenen Willen zu leben, sondern dazu, sich zu verstellen und seine Freunde zu erpressen. Oder Frauen, wie der Ingenieur es tut.“
Der Erzähler Blue ist Student und soll eigentlich ein Referat zum Thema „Die Kunst ist lang, das Leben kurz“ schreiben. Doch hat Blue den Verdacht, es könnte genau umgekehrt sein. Um das Geld zu verdienen, das er für Cafés, Mädchen und Hemden braucht, fotografiert Blue im Auftrag eines reichen Ingenieurs heimlich nackte Frauen, während der Ingenieur mit ihnen schläft. Mit Hilfe der Bilder sollen die Frauen später zu neuem Sex erpresst werden. Was Blue macht, ist keine klassische, brutale Zuhälterarbeit, aber auch nicht gerade nobel.
Allerdings ist Blue kein harter Kerl. Im Grunde hat er mehr mit Holden Caulfield aus Salingers Roman „Der Fänger im Roggen“ gemein, als mit klassischen amerikanischen Zuhälterfiguren wie denen aus den Büchern von Iceberg Slim oder aus Donald Goines berühmten Roman „Whoreson. The Story of a Ghetto Pimp.“
Sein Name mag amerikanisch sein, doch Blue ist kein amerikanischer Gangster, sondern ein europäischer Zweifler und Zauderer, der sich für das, was er tut, schämt. Nicht zufällig kommt das Wort „Zuhälter“ im ungarischen Titel gar nicht vor. Das Buch heißt auf Ungarisch schlicht: „Die großen Memoiren“.
„Hör zu, Blue, sagte er, wir sind alle wertlos, wie ungültige Währung.“
Das Buch endet, als doch etwas passiert. Zwei Freunde rasen in einem geklauten Wagen in den Tod, Blue kündigt seinen Spanner-Job und bricht mit seiner Freundin Csicsi, einer fabelhaft schönen jungen Prostituierten, ins Unbekannte auf. Alles ist offen.
Was bleibt, sind Fragen. Wie konnte ein ungarischer Jugoslawe im sozialistischen Novi Sad einen Roman über die Sorgen und Nöte junger Leute schreiben, den Veronika, Gilberte und Alexandre, die Helden aus Jean Eustaches Film „Die Mutter und die Hure“ ohne Zweifel als einen Roman über sich selbst begriffen hätten? Hing da nicht ein Eiserner Vorhang zwischen Paris und Novi Sad? Lagen nicht Welten zwischen Jugoslawien und Frankreich? Verlief da nicht eine Systemgrenze? Woher kommen die vielen Parallelen?
In Eustaches Film fehlt jeder direkte Verweis auf den Mai 1968 und doch ist offensichtlich, dass die gescheiterte Revolte das Leben der Helden von „Die Mutter und die Hure“ bestimmt. In Végels Roman fehlt ebenfalls jeder explizite Hinweis auf Politik, Staat und Gesellschaftsordnung. Und doch ist offensichtlich, dass sich die Atmosphäre der Ausweglosigkeit aus der wenig erbaulichen praktischen Realität des sozialistischen Experiments ergibt. Die künstlerischen und inhaltlichen Parallelen zwischen Eustaches Film und Végels Roman sind erstaunlich. Das Blue und seine Freunde ebenso gut, auf ähnliche Weise und aus ähnlichen Gründen in Paris unglücklich hätten sein können, wie in Novi Sad, ist offensichtlich. Aber stecken hinter all dem vielleicht viel weiterreichende Parallelen zwischen Ost- und Westeuropa? Parallelen, die vom Kalten Krieg verstellt waren und erst heute, 20 Jahre nach dessen Ende greif- und benennbar werden?
Wer „Die Bekenntnisse eines Zuhälters“ liest, fragt sich jedenfalls, ob die angeblich fundamentalen Unterschiede zwischen den beiden Systemen nicht vielleicht doch sehr viel geringer waren, als es die Ideologen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs wahrhaben wollten.
Wie auch immer die Antwort ausfällt: Lásló Végel ist in jedem Fall eine große Entdeckung. Sein Name sollte fortan in einem Atemzug genannt werden mit denen seiner wesentlich berühmteren Kollegen Aleksandr Tisma und Danilo Kis, die ebenfalls aus der Wojwodina stammen. „Bekenntnisse eines Zuhälters“ ist der erste Band von Végels Novi-Sad-Trilogie. Es steht zu hoffen, dass „Überblicke“ von 1984 und „Eckharts Ring“ von 1989 schleunigst ins Deutsche übersetzt werden.
László Végel: „Bekenntnisse eines Zuhälters“. Aus dem Ungarischen von Lacy Kornitzer, Matthes & Seitz, Berlin, 251 Seiten, 19,90 Euro