Stille Tage in Novi Sad
Über László Végels große Erinnerungsschrift »Bekenntnisse eines Zuhälters«
Von Gregor Keuschnig
Blue ist ein Student, der nicht fertig wird, Vorlesungen schwänzt und seinen Professor Sík mit einer Mischung aus Respekt (als Wissender und Humanist) und Verachtung (als Repräsentant eines Systems) betrachtet. Er nimmt einen „Job“ bei einem „Ingenieur“ an. Dieser gabelt unter der Jeunesse dorée der Stadt junge Mädchen und Frauen auf und verführt sie in seiner Wohnung. Blue fotografiert die beiden bei den sexuellen Handlungen, um dann die Frauen mit den Bildern zu konfrontieren und dahingehend zu beeinflussen, es weiter mit dem Ingenieur zu treiben. Aber die vermeintliche Erpressung ist eigentlich unnötig; die angesprochenen Frauen würden sich auch weiter freiwillig mit dem Ingenieur abgeben, um ihrem schnöden Alltag zu entfliehen. Schließlich verguckt sich Blue in die junge Gymnasiastin Bea. Der Ingenieur ist entzückt und „überlässt“ ihm das Mädchen.
Eine seltsame Konstellation rund um die Protagonisten dieses Romans, die mit ihren bandenähnlichen Namen wie Blue, Pud, Hem, N. G., Maja, Tanja (die umschwärmte, unerreichbare), Tornadosz, Jasmina, Merkurosz, Csicsi oder Saša sofort ein Eintauchen in die Szene suggerieren. Sie sind gescheiterte Studenten, Noch-Studenten, Gymnasiasten oder werdende Schriftsteller – eine Jugend, die nichts mit sich anzufangen weiß und deren größtmögliche Katastrophe die Langeweile ist. Das wirkt manchmal beklemmend zeitgemäss, aber an kleinen Indizien (der Tod Kennedys auf einer Zeitung, die als Toilettenpapier Verwendung findet oder Sylvie Vartan und Mahalia Jackson als kultisch verehrte Sängerinnen) merkt der Leser, dass es sich um eine weit zurückliegende Zeit handeln muss. Der Ort erschließt sich zunächst durch bestimmte geographische Schauplätze und dann wird der Name der Stadt genannt: Újvidék. Das ist der ungarische Name für Novi Sad, der Hauptstadt der autonomen Vojvodina in Serbien – also in Jugoslawien.
László Végels Erstling von 1967 (der Autor war damals 26 Jahre alt) ist nun erstmals unter dem Titel „Bekenntnisse eines Zuhälters“ in deutscher Sprache erschienen. Rätselhaft, zumal Blue, der Ich-Erzähler, gar kein Zuhälter im klassischen Verständnis ist (doch dazu später mehr). Kenner versichern, Végels Buch sei zum „Kultroman“ vor allem im Ungarn Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre geworden, weil es zutreffend und markant die Apathie und Perspektivlosigkeit einer Jugend im Sozialismus zeigte. Tatsächlich gehört die Clique um Blue der ungarischen Minderheit in Novi Sad an. Ein Umstand, der im Buch niemals direkt thematisiert wird und doch irgendwie mitzuschwingen scheint, etwa, wenn nebulös vom Krieg in der Stadt die Rede ist.
Fast ein bisschen gegen seinen Willen wird der Leser immer mehr in diesen beklemmend statischen und hermetischen Kosmos, der zwischen Resignation und Auflehnung schwankt, hineingezogen. Anders als bei den 68ern im Westen wird hier durch Verweigerung und einer Mischung aus krudem Sozialdarwinismus (Im Leben zahlt man nur drauf, wenn man die anderen nicht tritt), Lebensunlust (Wenn wir die Augen aufmachen, wird klar, dass es schon Kraft kostet, Ekel zu empfinden und trotzdem alles auszuhalten) und Selbsthaß (…wir sind alle wertlos) gegen eine bestehende Dominanz rebelliert.
Die zumeist aus gut situierten Elternhäusern kommenden Jugendlichen bemerken, wie ihnen Freiheiten durch die Anpassung genommen werden sollen. Wir werden belogen heißt es da und alles ist vergebens. Sie wollen keine Schoßhündchen werden und geben sich stattdessen dem Nichtstun hin, was alles andere als süß ist, eher schal. Auch das Studium bietet keine Perspektive. Der universitäre Betrieb ist korrupt; die Themata der zu verrichtenden Referate sind längst bekannt und die Vorlieben der Professoren auch. Plagiate, die einigermaßen umgeschrieben werden, an der Tagesordnung. Resignation überall.
Wichtig ist eigentlich nur wer mit wem und wann, in welchem Lokal eine Party läuft und in welchem Restaurant gegessen wird. Harte Drogen gibt es nicht; nur Alkohol. Es gibt Sex, aber die intimen Momente der Liebe bleiben utopisch. Blues Anhimmeln von Frauen ist fast keusch; die unerfüllte Sehnsucht zu kultivieren ist erotischer als der profane Akt. So scheinbar verfügbar sich Frauen hingeben, umso unerreichbarer ihre Seele. Gerade in der Erzählung dieser Momente, die von der Beschreibung der ständig von Langeweile bedrohten Szenen zuweilen dominiert wird, zeigt sich Végels Kennerschaft. Im übrigen ist man um die große Diskretion des Autors dankbar, der auf jegliche Obszönitäten verzichtet.
Mit der Zeit nehmen die Spannungen unter den Jugendlichen zu. Einige versuchen, Anschluss an das System zu bekommen; andere verharren in ihrer Apathie. Einer der Jugendlichen namens Merkurosz sieht sich als Schriftsteller, der die Interaktionen um Mädchen, Restaurantbesuche, Cliquenbildung und Kleinkriminalität aufschreiben, mit seinen psychologischen Deutungen versehen und als Buch veröffentlichen will. Vielleicht lässt sich hieraus die vermeintlich(?) „richtige“ Übersetzung des Titels – „Die großen Erinnerungsschriften“ – ableiten? (Dank an Martin von Arndt.) Zweifellos dürfte Merkurosz autobiografische Züge des jungen László Végel besitzen.
Schließlich verlässt der potentielle Schriftsteller mit Csicsi die Stadt, zumal erste Vorveröffentlichungen, die innerhalb der Clique kursieren, nicht besonders schmeichelhaft für die charakterisierten sind und auf entsprechende Ablehnung stoßen. Das Exil ist nicht sehr weit entfernt und man bleibt brieflich in Kontakt. Csicsi lacht sich einen neuen Liebhaber an, kommt aber irgendwann wieder zurück. Kurz darauf auch Merkurosz. Er ist mehr oder weniger mit seinem Vorhaben gescheitert. Er und Hem, der aus Langeweile Luxusautos knackt und mit ihnen solange herumfährt, bis der Tank leer ist, verunglücken bei einer selbstmordähnlichen Fahrt. Merkurosz ist sofort tot und Blue und Tornadosz rennen zur Unfallstelle, um dem sterbenden Hem die letzte Reverenz zu erweisen. Heute weiß ich, dass jene Minuten die wichtigsten in meinem Leben geworden sind sagt Blue rückblickend. Endlich stellt sich eine Kraft in ihm ein, eine vorher nie für möglich gehaltene Freiheit: Ich war zu allem entschlossen, fühlte mich wie jemand, über den nichts und niemand Macht hatte und der nur seinem inneren Befehl und dem eigenen Willen folgen und genau das tun würde, was er tun muss.
Der Tod der beiden Freunde wird zur Initialzündung für Blue. Er und Csicsi werden es versuchen – Ausgang ungewiss. Die drei Affen, die Blue am Anfang als Maskottchen bekommt (und deren Nichtssehen, Nichtshören und Nichtschauen auf dem Cover nachgebildet wird), haben ihre Magie verloren. Ganz am Ende driftet das Buch dann ein wenig zu sehr in Richtung pathetisch-theatralischer Westernfilm ab, etwa wenn es heißt:Wenn es uns irgendwo nicht mehr gefällt, ziehen wir weiter.
Die hier beschriebene Generation wurde 25 Jahre später in einen blutigen und erbarmungslosen Bürgerkrieg verwickelt. Von allen separatistischen Gruppen Jugoslawiens war die der Vojvodina die am wenigsten bemerkbare. Man ist geneigt, dies nach der Lektüre dieses melancholischen Buches zu verstehen.
http://www.glanzundelend.de/Artikel/abc/u_v_w/laszlo_vegel.htm